Es regnet auch im Paradies

von Max E. Blunier

Prolog

Zwei nordfriesische Fischer sitzen an der Theke. Vor jedem steht ein Glas Bier und ein Klarer. Die zwei schweigen sich über eine Stunde an. Zum Nachbestellen heben sie abwechselnd zwei Finger hoch, was landesüblich ist und auf Plattdeutsch heißt: „Bring mi noch’n Lüt un Lütt!“ (Ein Bier und einen Klaren). Nach fast zwei Stunden sagt der eine der beiden Schweigenden: „Hm, hmmm, t’jaaaaa, neeeech!“ Darauf der andere: „Was sabbelst du oooch heute wedder so viel Züüg!“ Darauf ist die Konversation beendet. So sind sie, die Friesen, kurz und bündig. Man braucht nicht viele Worte um sich zu verständigen, „man wees et ja schoon.“

Geprägt durch die Geschichte und die vielen Rückschläge durch die raue Nordsee entwickelte sich ein stolzer Menschenschlag, wortkarg mit einem trockenen liebenswerten Humor. „Lever duad üs slaw“, Lieber tot als Sklave, steht als Leitspruch auf der nordfriesischen Flagge.

Auf nach Nordfriesland!

Ich wollte sie schon lange besuchen, die legendären Krabbenfänger oben in Nordfriesland. Entlang der Küste von Brunsbüttel, Büsum, Meldorf, Tönning und Husum bis hinauf an die dänische Grenze, mitten durchs Land des Schimmelreiters. Leider wurde das Vorhaben durch einen Unfall im Jahr 2012 verhindert. Jetzt folgten wir der Einladung von Hildegard und Jürgen und starteten am 22. Mai 2013 zunächst Richtung Kassel. Dort verließen wir die Kamikaze-Strecke der Schumacher-Jünger und suchten uns ein ruhigeres Gewässer, sprich eine Landstraße. Die Weser entlang ging es auf der deutschen Märchenstraße Richtung Norden, begleitet ab und zu von einem Sonnenstrahl, der gleich darauf wieder durch kräftige Regenschauern verdrängt wurde, uns aber auf besseres Wetter hoffen ließ.

Durch den anhaltenden Regen der letzten Tage mit Erde und Schlamm gesättigt, pflückte sich die Weser wie eine dicke Ader durch die Landschaft, nahm mitunter eine Abkürzung über eine grüne Wiese oder ein frisch eingesätes Feld, um sich, eine Spur der Verwüstung hinterlassend, mit noch mehr Schlamm und Kies wieder ins alte Flussbett zu begeben.

Hoexter, © 2013 Max BlunierWir aber waren mitten drin in der Märchenwelt der Brüder Grimm, fuhren durch Dörfer mit anmutigen alten Fachwerkhäusern. Abseits der Besiedlung querte hier und da hoppelnd ein Hase unseren Weg, um sich erschreckt im Dickicht zu flüchten. Auf saftigen Wiesen liegend, blickte uns wiederkäuend und gelangweilt „hornloses“ Vieh nach, beraubt seines Kopfschmuckes durch menschliche Hand. Im Märchenhotel Stadt Höxter bezogen wir unser erstes Nachtlager. „Es ist gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß!“ stand groß in Zierschrift an der Wand des Zimmers. Wir sind gespannt, ob auch hier Stroh zu Gold gesponnen wird. Nach einem herrlichen Nachtessen mit ‘goldigem’ Spargel aus der Region, Salzkartoffeln und Sauce Hollandaise erkundeten wir bei einem kleinen Spaziergang die schöne Altstadt mit ihren Fachwerkhäusern.

Gesättigt aber müde nach der langen Fahrt hörten wir kurz vor dem Einschlafen im Bett das leise gleichmäßige Drehen der Spindel und den kichernden Gesang des kleinen Kobolds:

„Brrrr… brrrr Räd’chen dreh dich, Räd’chen steh nicht!
Es ist gut dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß.“

Wie war das noch einmal mit dem kleinen Gnom? Warum sprach er: „Das hat dir der Teufel gesagt, das hat dir der Teufel gesagt“? Es waren die letzten Worte, die meine Gedanken kurz vor dem Einschlafen streiften.

Hildesheim, © 2013 Max BlunierAm nächsten Tag fuhren wir nach einem, wie es in Old Germany üblich ist, ausgiebigen Frühstück mit viel Wurst, Eiern und Kaffee im Magen der Märchenstraße folgend Richtung Nordosten, ließen die Stadt des Rattenfängers von Hameln links liegen und fuhren der Landstraße folgend nach Hildesheim. Der Marktplatz ist allemal einen Abstecher wert. Die Stadt wurde 1945 fast komplett zerstört, nach dem Krieg fachgerecht wieder aufgebaut und erstrahlt heute wieder im alten Glanz. Am Marktplatz wurden wir von ein paar wärmenden Sonnenstrahlen empfangen, die uns auf ein Cappuccino im Freien einluden. Ein Handharmonikaspieler saß vor dem Rolandsbrunnen und sang sich selbst begleitend mit wunderbarer Tenorstimme ein paar Lieder quer durch die Oper- und Operettenwelt. Wir genossen den Kaffee und ließen uns auf der sonnigen Terrasse von zärtlichen Weisen wie ‘Ich hab sie ja nur auf die Schulter geküsst’ und ‘Wien, Wien nur du allein’ berieseln. Der Troubadour hatte eine gut ausgebildete Stimme und begeisterte uns vor der traumhaften Kulisse so sehr, dass ich meine von dem letztjährigen Unfall noch schmerzende Hüfte in Richtung seines Sammelhutes schob, um mich begeistert von ein paar Euros zu trennen.

Unsere Reise führte uns weiter nach Celle in die Lüneburger Heide und in die Marzipanstadt Lübeck. Doch der Wettergott hatte sich schon wieder gegen uns verschworen und es regnete in der Heide wie aus Kübeln gegossen. Alle Hotels waren ausgebucht. Ich sah mich schon wie einst in jungen Jahren mit der Liebsten auf dem Autositz zu übernachten!

Die Lüneburger Heide war uns also nicht gut gesonnen. Vielleicht weil wir Schweizer nicht in der EU sind? Auch die Till-Eulenspiegel-Stadt Mölln verweigerte uns die Gastfreundschaft und ließ uns im strömenden Regen weiter nach einem Nachtlager suchen. Schließlich wurden wir im Hotel Seeburg in Ratzeburg fündig. Bei einem herrlich frischen Nüsslersalat, wie wir den Feldsalat nennen, und einem Nudelgericht mit Muscheln und Garnelen konnten wir uns mit kulinarischen Köstlichkeiten entspannen und genossen den Abend mit Blick auf den See.

Tief über der Seeoberfläche zogen die Mehlschwalben nach Nahrung suchend ihre Kreise. Ihre Köpfe vor der Nässe schützend unter den Flügeln versteckt saßen ein paar Entenpärchen auf dem Schiffssteg. Ab und zu die Flügel streckend kamen die Köpfe gelangweilt wieder zum Vorschein. Mit trippelnden Schritten ging es dann auf dem Bootssteg ein Stück weiter, um sich gleich darauf erneut niederzulassen und auf Wetterbesserung zu warten.

Teufel, © 2013 Max BlunierTrotz des schlechten Wetter machten wir am nächsten Tag einen kurzen Abstecher in die alte Hansestadt Lübeck, bekannt auch als Thomas Manns Buddenbrookstadt. Es regnete in Strömen. Wollte uns der Wettergott auch den Besuch des alten Doms verderben? Tatsächlich saß der Teufel bereits vor dem Eingang und verlangte eine Gebühr für die Besichtigung des historischen Gemäuers. In Anbetracht der wartenden Besucher disponierten wir um und strebten der Marzipan-Confiserie Niederegger zu! Hier wurden unsere Geschmacksnerven auf das Höchste angeregt, und wir ließen uns zum Kauf von Köstlichkeiten für unsere daheim gebliebene Jungmannschaft verführen. Das Lübecker Marzipan gilt als das beste der Welt und ist seit Hunderten von Jahren durch seine sorgfältige Verarbeitung bekannt.

Bezüglich der Herkunft des Marzipans erzählt man sich diverse Geschichten. Nach einer von ihnen soll um das Jahr 1407 in Lübeck eine Hungersnot gewütet haben. Da kein Korn mehr vorhanden war, trug der Senat den Bäckern auf, von den in den Speichern gelagerten Mandelvorräten ein Brot zu backen. Aus geriebenen Mandeln und Zucker wurde dann durch fleißige Bäckergesellen ein Produkt hergestellt, das dem Nährwert des Brotes gleichkam oder sogar übertraf.

Doch auch viele andere Städte erheben den Anspruch, dass das Marzipan in ihren Mauern erfunden wurde. So verweist eine Legende auf den Namen Marci panis (Markusbrot) und sagt, es stamme aus Venedig und sei von dort nach Lübeck gelangt. Bewiesen ist nur, dass es schon in der Antike in südlichen Ländern hergestellt wurde und vermutlich durch Kaufleute nach Deutschland gelangt ist.

Manche Sprachforscher glauben, dass der Name von der byzantinischen Münze „Mauthaban“ abzuleiten sei. Was das mit Marzipan zu tun hat, entzieht sich meinem Vorstellungsvermögen. Vom mir aus sollen sie ruhig weiterstreiten, aber eines ist sicher: Marzipan erfreut den Gaumen und das Gemüt! Und wird mir dazu noch ein Rotspon (edler Rotwein) und ein guter Kaffe offeriert, kann mir selbst der Regen die gute Laune nicht verderben.

An der Westküste

Wir nähern uns dem Ziel. Dem Abendverkehr ausweichend fahren wir über Land Richtung Meldorf, um dort im Hotel zur Linde zu übernachten. Leider ist unsere Reservierung entweder verlorengegangen oder nie angekommen. Am Ende landen wir im Hotel Garni Stadt Hamburg. Das Zimmer ist sauber, aber nach Zigarettenrauch riechend, und ladet nicht unbedingt zu einen längeren Aufenthalt ein. In dem offenbar einzig geöffneten Restaurant der kleinen Stadt, der Pizzeria Mama Leone, werden wir mit italienischem Temperament vom Besitzer persönlich an den Tisch geführt. Mit viel südländischen Charme überzeugt er uns wild gestikulierend von seinem

„Filettini d’agnello alla Mama Lucia“

oder auf deutschfriesisch

Lendenfilet von der Heideschnucke nach Großmutterart mit
Pfifferlingen an einer sämigen Honig-Senf-Sauce.

Die Ladung auf dem Teller würde das Herz eines jeden kräftigen Seemanns höher schlagen lassen. Schade, dass das wunderbar rosé gebratene Fleischstück mit der Beilage auf einem eiskalten Teller serviert wurde, was das Bemühen des Koches schmälerte.

Der vom Stiefelabsatz Italiens aus der Region Lecce stammende Wirt Signore Spennato musste die Enttäuschung darüber auf unseren Gesichtern gelesen haben, bestand darauf, dass wir den Grappa casalingha seiner lieben Mama unbedingt noch degustieren. Schon waren die Flasche mit einer flinken Bewegung in seine Hand gesprungen, die Gläser gefüllt, in die Höhe gehoben und mit einem kräftigen „Salute“ geleert. Selbstverständlich ließ sich ein Nachgießen nicht vermeiden, es wäre ja eine Beleidigung gegenüber seiner Gastfreundschaft gewesen! Als Gegenleistung durften wir ihm am Ende noch die Rezepte für Rosmarin-Bratkartoffeln, Berner Rösti und Züricher Geschnetzeltes aufschreiben und mussten einen weiteren Besuch versprechen.

Am nächsten Tag steuerten wir unser Ziel Tönning an, nicht ohne den Städten Brunsbüttel mit den Schleusen zum Nord-Ostsee-Kanal, Marne und Heide einen kurzen Besuch abgestattet zu haben. Die auf dem Marschland (dem Meer abgerungener Boden) liegenden Städtchen verloren trotz des weiterhin anhaltenden Regens nicht ihren Reiz und Anmut.

 
Einzug in ‘uns Huus’

Es ist Mitte Mai und verflixt kalt! Das Außenthermometer zeigt 6° C an. Sturmböen fegen über die Fahrbahn. Durch die Regenschwaden vermeint man ab und zu einen Reiter im dunklen Mantel auf einem weißen Gaul über die durchtränkten Felder galoppieren zu sehen. Ist es der Schimmelreiter?

Wir freuen uns auf unsere warme Unterkunft in „Uns Huus“. Ab 15:00 Uhr soll es zur Übernahme bereit sein, also haben wir genügend Zeit, um zuvor die nordfriesische Küche zu erkunden. Gegen 12 Uhr machen wir im alten Hafen von Tönning direkt vor der Tür des Hotels Zum goldenen Anker unsere Leinen fest. „Klaar Schipp un rin in de gode Stuuv“, oder wie die Landratten sagen: „Schlüssel drehen und ab in die warme Stube!“

Oooooch, wie haben wir uns auf die Fischplatte gefreut. Eine hübsche Blondine mit nordfriesischem Akzent begleitet uns an einen schmucken, einladenden Tisch, überreicht uns die Speisekarte und zückt ihren Notizblock. Die abwechslungsreiche Reise hat uns durstig gemacht, und wir bestellen erst einmal ein Pils, natürlich nach deutschem Reinheitsgebot gebraut. Nach einer Geduldszeit von ungefähr sechs Minuten wird die Königin der tschechisch-bayerischen Braukunst mit einer sanften eleganten Bewegung vor uns auf den Tisch gestellt. Wobei sie hier und heute aus Flensburg zu uns kommt. Ach, wie macht unser Herz da ein Freudensprung! Schon der Anblick der weißen Haube, die thronend auf dem Haupt des edlen Saftes sitzt, lässt uns den ersten Schluck genussvoll erahnen.

Bier, © 2013 Max BlunierIn keinem Land der Welt wird diesem Getränk so viel Aufmerksamkeit beim Ausschank geschenkt wie in Deutschland. Ein Bier braucht die ganze Aufmerksamkeit des Braumeisters von der Maische bis zum Ausschank. Einmal aus der Enge des Fasses befreit, verlangt es im Glas eine kurze Ruhe um sich mit Sauerstoff zu sättigen. Als Belohnung wird dem Gast eine goldene Adlige mit einer Krone aus weichem, sämigen Schaum vorgesetzt. Ich stoße mit meiner Käthi an, und wir genießen das zarte Eintauchen unserer Lippen in den weichen Schaum und lassen den ersten Schluck sanft durch unseren Gaumen gleiten. Prickelnd mit einer wohltuenden Kühle erfrischt der Flensburger Gerstensaft unser Gemüt und lässt uns das schlechte Wetter vergessen. Ein hervorragendes Bier!

Mit dem Gesang der Möwen in den Ohren und der Seeluft in der Nase entscheiden wir uns für Fisch. Die Fischpfanne des goldenen Ankers sorgt für eine angenehme Überraschung: Lachs, Scholle, Rotbarsch, Muscheln und Krabben an einer wunderbaren Safransauce, umrahmt von einem Trockenreis. Und Käthys Rotbarschfilet mit Krabben zu Kartoffeln und einer milde Krabbensauce nicht minder.

Menue, © 2013 Max Blunier

Es schmeckte hervorragend, aber leider wurden die Speisen auch dieses Mal auf eiskalte Teller geschöpft. Schade um den Aufwand und die perfekte Zubereitung in der Küche. Leider wird in Deutschland dem warmen Service oft zu wenig Beachtung geschenkt. Das Serviertuch, in der französischen Fachsprache auch Tochon genannt, kennt man im Land der Germanen kaum. Es handelt sich um ein kleines zusammengefaltetes Tüchlein, das man sorgfältig über die Hand zum Unterarm legt um die warmen Teller zum Gast tragen zu können.

Gemäß unserem Mietvertrag können wir „Uns Huus“ ab 15 Uhr beziehen, und so genießen wir das Ambiente des Goldenen Ankers. Kurz nach zwei bemühen sich ein paar Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke und erwärmen den trüben Tag. Ein kleiner Verdauungsspaziergang im Hafen lässt die Zeit im Nu vergehen. Das Thermometer allerdings zeigt auf der Skala weiterhin nur 6 °C an.

Dann beziehen wir unser Quartier in „Uns Huus“ und freuen uns nach den nassen Tagen auf die warme Stube. Wie schon beim ersten Besuch in Tönning, erwartet uns auch dieses Mal eine Flasche Rotkäppchensekt und ein Buchgeschenk. Nach sorgfältigem Studium der Betriebsanleitung drehe ich die Heizung höher. Als dann auch noch der Schwedenofen in Betrieb genommen ist, breitet sich in dem blitzblanken Haus die Gemütlichkeit aus. Wir genießen den Abend vor dem flackerndem Feuer, und glitzernd blickt uns im Feuerschein das Rotkäppchen an. Ein ganz herzliches Dankeschön an unsere Vermieter! Dann schlafen wir nach den vergangenen anstrengenden Tagen wie die sieben Zwergen in den wohligen Betten bis in den Morgen hinein.

 
Erste Tage in Nordfriesland

Vierundzwanzigster Mai 2013. Der Morgen ist regenfrei. Wir wollen zu dem im Ort ansässigen Optiker, um mir eine neue Brille anpassen zu lassen, es soll ja billiger sein als bei uns in der Schweiz. Ich brauche eine neue, also warum nicht gleich hier in Tönning. Zu Fuß begeben wir uns von der Deichstraße in den Herrengraben und dann Richtung Markt. Das Gekrächze der Krähen aus dem Schlosspark begleitet uns auf dem Weg. Bei dem Haus von Frau Blümlein halten wir Ausschau nach unserem Entenpärchen Elke & Hauke, das uns von unserem ersten Besuch in Tönning in Erinnerung geblieben ist. Fünf Jahre sind das nun schon her.

Beim Optiker Schroeder lasse ich mir die Augenstärke messen und ein Kostenvoranschlag machen. Da die Wettervorhersage für die kommenden Tage keine Besserung in Aussicht stellt und die Temperaturen nicht auf Badewetter hindeuteten, beschließen wir unseren Brennholzvorrat aufzustocken. Wir machten uns auf die Suche nach Kaminholz, was um diese Jahreszeit gar nicht so leicht ist. Nachdem wir erfolglos Tönnings Tankstellen und Einkaufscenter abgeklappert haben, beschließen wir unser Glück in Husum zu versuchen. Und hier werden wir fündig. Aber der Wettergott spielt mit uns: als er das Brennholz sieht, lässt die Sonne scheinen als wolle er jetzt den Sommer einleiten.

Die Husumer Altstadt mit ihren schönen engen Gassen ladet zu einem Bummel ein. Der Blick auf die alten hohen Giebelhäusern fasziniert, zugleich weht ein frischer Nordseewind durch die engen Gassen. Die alten Hafenkneipen laden zu einem Bier mit Krabbenbrötchen ein. Husum war im 16. Jahrhundert eine wichtige Handelsstadt, vor allem für die Holländer, und die Verkehrsverbindung zwischen Husum und Flensburg öffnete ihnen das Tor auch zur Ostsee.

In Jahre 1852 wurden mehrere Straßenzüge der Stadt durch eine verheerende Feuersbrunst zerstört. In der Hohlen Gasse, nicht zu verwechseln mit nämlicher aus der Sage von Friederich Schillers Wilhelm Tell, blieben einige Häuser erhalten und prägen noch heute das Straßenbild. Die Gemütlichkeit der kleinen Stadt zieht uns ganz in ihren Bann und wir genießen den Nachmittag in vollen Zügen. Fast hätte es zu einem Sonnenbrand gereicht.

Roter Haubarg, © 2007 Juergen KullmannAuf der Rückfahrt besuchen wir zwischen Simonsberg und Witzwort den roten Haubarg. Die Urlauber sind heute auf Schlechtwetter und „Indoor Events“ programmiert, und so wäre ein Besuch der angegliederten Gaststätte nur unter dem Risiko „erdrückt zu werden“ möglich gewesen. So lassen wir davon ab und fahren bei wieder eintretendem Regen nach Tönning. Schnell kaufen wir noch ein paar Lebensmittel ein. In unserer gemütlichen Wohnung zaubert meine Käthy ihre berühmten Spaghetti an einer herrliche Tomatensauce auf den Tisch. Wir genießen den Abend an unserem Lagerfeuer bei einem Glas Wein und einer Lektüre aus der Bibliothek.

Zuvor versuchte ich noch Kontakt zu Herrn A. aufzunehmen, der sich im vergangenen Jahr durch Vermittlung unseres Vermieters bereiterklärt hatte, uns mit den Tönninger Krabbenfischern bekannt zu machen. Das bezog sich zwar auf unseren durch meinen Unfall „ins Wasser gefallenen“ Urlaub 2012, doch warum es nicht ein Jahr später noch mal probieren? Leider kam immer nur der Anrufbeantworter und wir erhielten auch keinen Rückruf. Die Wohnung von Herrn A. liegt nur ein paar Schritte von unserer Wohnung entfernt. Daher klopfte ich am nächsten Tag an seine Tür, hatte aber auch keinen Erfolg – auch Nordfriesen machen mal Urlaub. So beschlossen wir nicht zuletzt in Anbetracht der wenig erfreulichen Wettervorhersage das Krabbenprogramm zu streichen. Die nächsten Tage genossen wir mit kleinen Spaziergängen auf dem Deich und in die näheren Umgebung.

Eine Landpartie nach Kappeln

Freitag, 31. Mai 2013. Heute machen wir ein Landausflug nach Kappeln an der Schlei, bei der es sich nicht .wie man meinen könnte um einen Fluss handelt, sondern um einen Ostsee-Fjord.

WappenDas Stadtwappen des Städtchens zeigt den Christopherus mit einem nackten Christuskind auf den Schultern und drei blaue Heringen auf jeder Seite. Es wurde durch den Film Der Landarzt als Deekelsen berühmt und soll landschaftlich sehr schön an der Kieler Bucht liegen. Also nichts wie hin! Von Tönning aus fahren wir Richtung Friedrichstadt, Norderstapel, Kropp und dann durch den Hüttener Naturpark Eckernförde entlang der Küste nach Kappeln. Sehenswert die 1888 erbaute Holländer Windmühle Amanda in der Geltinger Birk und das Rathaus. Die neue Schleibrücke kann in der Mitte für den Schiffsverkehr aufgeklappt werden kann, sie ersetzte 2002 die historische alte Drehbrücke. Nicht aller Kappelner waren davon begeistert.

Das Wetter spielt mit, und wir dürfen ein paar Sonnenstrahlen begrüßen. In einer reizenden Hafenkneipe wollen wir uns ein Essen leisten, verzichten aber darauf, weil am Nachbartisch geraucht wird und wir uns den Appetit nicht durch den Qualm verderben lassen wollten. So verlassen wir das reizende Städtchen und fahren auf der Küstenstraße 199 Richtung Flensburg, um anschließend über die Bundesstraße zurück 200 nach Husum und Tönning zu gelangen. Im Restaurant zum goldenen Anker genießen wir dann endlich ein langersehntes herrliches Fischgericht.

 
Friedrichstadt

Auch dieses kleine Städtchen mit dem holländischem .Charme hat uns sehr gut gefallen. Im alten Ge.richtsgebäude, heute ein Café, haben wir wohl einen der besten Kuchen gegessen, und das für nur 2 Euro!

Erbaut wurde Friedrichstadt durch Herzog Friedrich III im Jahr 1621. Um seine Handelsbeziehungen mit den Dänen und Spanier aufrecht erhalten zu können, holte er aus Holland die dort mit einem Religionsverbot belegten Mennonieten und Remonstranten ins Land und versprach ihnen Glaubensfreiheit. Sie errichteten Häuser und Grachten im holländischen Stil. Als Holland 1630 das Religionsverbot aufhob, zogen viele Familien wieder zurück in ihre alte Heimat.

Friedrichstadt, © 1999 Juergen Kullmann

1850 wurde die Stadt fast zu zwei Drittel durch schleswig-holsteinische Truppen zerstört, doch trotz dieser Zerstörung blieb Friedrichsstadt bis heute dem holländischen Stil treu. Besonders schön sind die zusammenhängenden Kaufmannshäuser an der Westseite des Marktplatzes. Staunend läuft man über die mit Pflastersteinen belegten Straßen und Gehsteige. Ab und zu erblickt man eine, mit Namen versehene Messingplatte vor einem Haus, die uns die jüngste schreckliche Vergangenheit des zweiten Weltkriegs in die Erinnerung ruft:

Hier wohnte Mosche Dreyfuss
ermordet in Auschwitz 1943

Den Namen habe ich frei erfunden, er soll nur als Beispiel dienen. Unweigerlich denkt man an Anna Frank und die vielen Opfer. Mit vielen Eindrücken verlassen wir das reizende Städtchen und fahren Richtung Schwabstedt, ein einstiger Bischofssitz, und von dort via Wisch nach Westerkoog in der Südermarsch.

Zurück nach Tönning zum Krabbenbrötchen essen und eine Wanderung entlang der Eider! Der Regen treibt uns wieder in die Deichstraße.

 
Weitere Ausflüge ins Umland

Am nächsten Morgen lassen wir es langsam angehen, fahren wir nach Sankt Peter Ording, promenieren .über die Dünenpromenade, essen eine Kleinigkeit in einem Fischladen und verbummeln die Zeit mit Shopping. Tags darauf finde ich beim Sonntagsspaziergang an der Uferpromenade in Tönning unter einer Sitzbank ein Nokia Handy. Nach mehreren Versuchen die Besitzerin zu ermitteln, können wir das verlorene Objekt an die junge Frau zurückgeben. Sichtlich erleichtert radelt die junge Dame wieder im Besitz des gesuchten Gegenstandes ins Städtchen zurück.

Ein erstes Resümee. Trotz des miesen Wetters genossen wir die Ferien in „Uns Huus“ in vollen Zügen, machten Ausflüge nach Flensburg, und Tønder in Dänemark, wo wir die besten Sandwichs aller Zeiten gegessen haben. Schon das Brötchen war ein Meisterwerk der Backkunst: Mit einem zartes Pouletbrüstchen umringt von frischen Salaten genossen wir den sonnigen Nachmittag auf der Terrasse des Café Zollhaus.

Am zweiten Juni ging mir ein langersehnter Wunsch in Erfüllung, ein Besuch der Kieler Förde. Diese Bucht wollte ich seit Jahren besuchen, kam aber nie dazu. Als ich dort jetzt einen Zweimaster mit dem Namen Nis Randers unter Vollzeug sah, kam mir das Gedicht von Otto Ernst aus meiner Schulzeit in den Sinn. Und so zitierte ich an der Kielerförde stehend frei aus dem Stegreif die berühmten Zeilen, und meine Käthi staunte, dass ich nach so vielen Jahren das Gedicht noch in Erinnerung hatte:

Otto Ernst 1862–1925
Nis Randers

Krachen und Heulen und berstende Nacht,
Dunkel und Flammen in rasender Jagd –
Ein Schrei durch die Brandung!

Und brennt der Himmel, so sieht man’s gut.
Ein Wrack auf der Sandbank! Noch wiegt es die Flut;
Gleich holt sich’s der Abgrund.

Nis Randers lugt – und ohne Hast
Spricht er: „Da hängt noch ein Mann im Mast;
Wir müssen ihn holen.“

Da faßt ihn die Mutter: „Du steigst mir nicht ein:
Dich will ich behalten, du bliebst mir allein,
Ich wills, deine Mutter!

Dein Vater ging unter und Momme, mein Sohn;
Drei Jahre verschollen ist Uwe schon,
Mein Uwe, mein Uwe!“

Nis tritt auf die Brücke. Die Mutter ihm nach!
Er weist nach dem Wrack und spricht gemach:
„Und seine Mutter?“

Nun springt er ins Boot und mit ihm noch sechs:
Hohes, hartes Friesengewächs;
Schon sausen die Ruder.

Boot oben, Boot unten, ein Höllentanz!
Nun muß es zerschmettern …! Nein, es blieb ganz …!
Wie lange? Wie lange?

Mit feurigen Geißeln peitscht das Meer
Die menschenfressenden Rosse daher;
Sie schnauben und schäumen.

Wie hechelnde Hast sie zusammenzwingt!
Eins auf den Nacken des andern springt
Mit stampfenden Hufen!

Drei Wetter zusammen! Nun brennt die Welt!
Was da? – Ein Boot, das landwärts hält –
Sie sind es! Sie kommen! – –

Und Auge und Ohr ins Dunkel gespannt …
Still – ruft da nicht einer? – Er schreits durch die Hand:
„Sagt Mutter, ’s ist Uwe!“

Das Gedicht durfte ich beim Schulexamen 1955 vortragen und habe es bis heute nicht vergessen.

Am dritten Juni ging es nach Friedrichskoog, ein Ort mit etwa 2.500 Einwohnern und vor allem durch seine Seehunde bekannt. Ich zitiere aus einer Broschüre von Dithmarschen Tourismus:

„Noch vor 150 Jahren hätten Sie hier ganz schön nasse Füße bekommen. Vor Hunderten von Jahren begannen die Dithmarscher, lange Deiche anzulegen, vor denen die sogenannten Köge entstanden. Bis heute haben die Küstenbewohner so dem Meer 7.000 Meter Land abgerungen. Wenn Sie bei einem ausgedehnten Spaziergang in unserer frischen Luft einmal genau hinschauen, können Sie heute noch die Wellen des Meeres auf unserem Land erkennen.“

Wir besichtigten die Seehundstation und ließen uns von den gewandten Schwimmern beeindrucken. Hier werden verletzte oder ihren Müttern abhanden gekommene Seehunde, gepflegt, um dann wieder in die Freiheit ausgesetzt zu werden. Entlang der grünen Küstenstraße fuhren wir hinauf über Büsum und Wesselburen nach Garding und genossenen trotz sich abwechselnder Wolkenbrüche die wunderbare Landschaft.

4. Juni 2013. Wir besuchten den Westerhever Leuchtturm, ein See-Quermarken Leitfeuer mit einer Höhe von 41 Metern und einer Tragweite von 21 Seemeilen rund 39 Kilometer. Eine Nautische Meile sind 1852 m. Erbaut wurde er im Jahr 1906 auf einer aufgeschütteten, vier Meter hohen Warft. Kennung: 15 Sekunden mit 3 Unterbrechungen, 1 Sek. dunkel, 2 Sek. hell, 1 Sek. dunkel, 2 Sek. hell, 1 Sek. dunkel und 8 Sek. hell.

Westerhever, © 1997 Juergen Kullmann

Auf der Terrasse einer nahegelegenen alten Reethaus-Gaststätte ordern wir eine deftige Mahlzeit. Für kurze Zeit lacht uns die Sonne schelmisch zu, und wir lassen uns bei Schälkartoffeln, Heringssalat und Siedfleisch von ihr erwärmen.

Nach dem Essen „klaarte“ es ein wenig auf, und wir fuhren entlang der Küste des Wattenmeers nach Slatterack und Uelvesbüll. In der Nähe von Uelvesbüll hielten wir an, um uns die Füße zu vertreten und etwas von der schönen Küstenlandschaft zu sehen. Ein alleinstehender, verwahrloster Haubarg weckte unsere Neugier. Beim Nähertreten machte sich Meister Langohr aus dem Staub und hoppelte in gemächlichem Tempo Richtung Watt:

Salzwiesen, © 2013 Max Blunier

Nach meiner Einschätzung schlägt er den falschen Weg ein, läuft statt sich ins nahe Gestrüpp zu schlagen im gemächlichen Zick-Zack Kurs Richtung Watt. Nun, denke ich, bei den Sielen oder am Watt wird sein Lauf so oder so zu Ende sein und er wird sich einen andern Weg suchen müssen. Ich hole ich mein Seeglas Steiner Commander aus dem Auto und suche den Flüchtigen an der Küste. Am Strand finde ich den Ausreißer, hoppelnd nähert er sich einem kleinen Wattensee, streicht sich eingekeilt von zwei Landzungen am Rande des Gewässers mit einer Pfote über Äser und Augen, schaut zu den neugierigen Schafen, schüttelt den Kopf und lässt die Löffel um den Kopf fliegen. Meine Augen spielen mir wohl einen Streich, ich kann es fast nicht glauben: er steigt ins feuchte Nass und schwimmt gemächlich durch das tiefe Wasser auf die andere Seite, verfolgt von den gelangweilten Blicke der Schafe. Dort angelangt lässt er sich das saftig grüne Gras schmecken, als sei es die einfachste Sache der Welt für ein „Bunny“ einen See zu durchqueren. Derweil zieht gemächlich ein Seeadler seine weiten Kreise über der Landschaft lässt ab und zu einen schrillen Schrei ertönen.

In meinem ganzen bisherigen Leben hatte ich noch nie einen schwimmenden Hasen gesehen, und obschon meine Heimat einst als das hasenreichste Gebiet der Schweiz galt, habe ich nie von einem Jäger gehört, dass Hasen Flüsse oder Gewässer durchqueren. Ich glaubte in ein Märchen versetzt worden zu sein. Ja, die Natur! Nur schade, dass ich keine Kamera zu Hand hatte!

Abschied von Nordfriesland

Die Wettervorhersage am Abend blieb schlecht, und so wir beschlossen wir unsere Rückreise früher anzutreten. Wir wollten noch das Das alte Land bei Hamburg besuchen und dann weiter nach Emden in Richtung Holland.

Fischanlieferung, © 2013 Max BlunierIch besuchte am nächsten Morgen noch einmal den Fischladen am alten Hafen und ließ mir von einer charmanten Fischhändlerin alles über den soeben eingetroffenen Fang berichten. Beeindruckt von ihrem Fachwissen ließ ich mir zeigen, wie man Krabben pult. Bei der Fingerfertigkeit der Fischerbraut kam ich ins Staunen, was so leicht schien, forderte meine ganze Konzentration. Man nimmt die Krabbe am Kopf zwischen Daumen und Zeigefinger und hält sie fest ohne zu drücken. Mit der andern Hand fast man das Hinterteil, dreht es sorgfältig bis der Panzer bricht und zieht die hintere Schale sorgfältig ab. Vorsicht ist geboten, nicht zu fest drücken und die Schale nicht wegwerfen! Warum wohl? Weil sie zur Herstellung von Hummerbutter verwendet werden kann. Das geht so:

Krabben, © 2013 Max BlunierMan röstet die Schale ganz leicht im Ofen, gibt anschließend 1 kg davon in einen Topf mit ein bis zwei Liter Wasser und 1 kg Butter. Dies alles kocht man ca. eine Stunde auf mäßigem Feuer auf und siebt die gewonnene Flüssigkeit ab. Am besten mit einem Passiertuch oder Spitzsieb. Den Fond kocht man anschließend noch kurz auf und lässt ihn im Kühlschrank über Nacht stehen. Am nächsten Morgen nimmt man die hart gewordene Butter sorgfältig oben ab, und schon hat man die beste Hummerbutter für eine Fischsauce oder Bisque de Homard. Den Rest des Sudes verwendet man als „Fumet des Crabes“ für eine Fischsuppe.

Nachdem wir unsere Wohnstätte einer gründlichen Reinigung unterzogen und die Betten abgezogen hatten, verließen wir „Uns Huus“ mit einem wehmütigen Gefühl. Adieu, du Stätte der Gemütlichkeit im Land des Schimmelreiters.

Unser Ziel ist das „Das alte Land“ bei Hamburg, dann die Störtebekerstraße entlang Richtung Emden, Norden, und Greetsiel mit einem Besuch der Insel Norderney. Es folgt ein Abstecher nach Amsterdam, und dann geht es nach Hause in die Schweiz.

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Es regenet auch im Paradies, © 2013 Max E. Blunier