In der kleinen Villa

– Herbst 2006 –

 

Sonnabend 23. September 2006

Früher Nachmittag. Ein dicker Pott schiebt sich lautlos in Richtung Baltische See – wir fahren über den Nord-Ostsee-Kanal. Eine Stunde später sind wir in Tönning. Den Schlüssel zur lütten Villa gibt es an der Tankstelle hinter dem Einkaufzentrum. Man glaubt uns auch ohne Buchungsbestätigung und rückt ihn heraus.

Seit einiger Zeit wird das Haus aus der Jugendstilzeit in einem Immobilienportal zum Kauf angeboten, zu einem Preis, der zu unserem Budget passt, und mit dem Hinweis, dass es derzeit als Ferienhaus vermietet wird. Und so mieten wir es für eine Woche, um es uns genauer anzusehen.

Kleine Villa, © Juergen KullmannHübsch ist sie, die lütte Villa, wenngleich Dach und Dachgauben erneuerungsbedürftig wirken, soweit wir das als Laien beurteilen können. Drinnen ist sie geschmackvoll renoviert, an den Wänden Originalgrafiken – keine alten Schinken aus dem Nachlass von Tante Ottilie und Urgroßmutter Amanda. Dahinter und rechts vom Haus ein romantischer Garten, der sich zum Teil auf einem separat zu erwerbenden Nachbargrundstück befindet.

Und das Drumherum? Die große, schäbige Halle der Autowerkstatt auf der linken Grundstücksgrenze macht das Anwesen nicht unbedingt zu einem Schmuckstück, und der Autolärm von der Straße ist unüberhörbar. Wie es damit erst an Werktagen bestellt ist? Warten wir ab.

Wir wandern durchs Städtchen, denn da gibt es noch ein Haus, das zum Verkauf steht und im Internet einen netten Eindruck macht: in der Martje-Flohrs-Straße. Die aus dem benachbarten Weiler Katharinenheerd stammende Martje Flohrs wurde bis weit über die Grenzen ihres Heimatdorfes durch ihren Trinkspruch Et gah uns wohl op unse olen Dage bekannt. Der Gardinger Ober- und Landgerichtsadvokat P. W. Cornils berichtete 1841 über seine Entstehung:

“... Während der Belagerung Tönnings im Jahre 1700 nämlich hatte eine Gesellschaft von feindlichen Offizieren auf einem Hofe in Katharinenheerd (er ist erst seit einigen Jahren verschwunden) Wohnung genommen und verfuhr nach Feindes Art nicht eben säuberlich, so dass ihnen bei Tische eher der Gedanke als der Wein ausging. Die Tochter im Hause, Martje, damals 10 Jahre alt [...], sah dem Treiben der Fremden und der Trübsal ihrer Eltern mit Unwillen und Bedauern zu, als sie von den übermütigen Gästen aufgefordert wurde, auch eine ‘Gesundheit’ auszubringen. Dies tat sie auf eine Weise, welche ihr Andenken bis jetzt erhalten hat. Unter ‘Martje Flohrs Gesundheit’ nämlich, ohne welche in Eiderstedt beim sinnig frohen Mahle Gast und Wirt sich selten trennen, wird der von ihr damals ausgebrachte Trinkspruch ‘Et gah uns wohl op unse olen Dage’ verstanden.”

Das fragliche Haus in der Martje-Flohrs-Straße, ein altes Kapitänshaus, vermuten wir, macht einen sehr hübschen Eindruck, und die Lage ist allemal besser als die der lütten Villa. Der Jägerzaun riecht nach einer frischen Imprägnierung, eher ungewöhnlich bei einem Haus, das verkauft werden soll. “Die Fenster wurden wohl auch gerade erst gestrichen”, meint mein Mädchen. “Nein”, lacht eine junge Frau, die aus der Tür tritt. Was den Zaun betrifft, den hätte ihr Vater noch angefangen zu streichen, ehe er vor zwei Jahren starb, und sie habe kürzlich den Rest erledigt. Ein bisschen Geplauder zwischen ihr und meiner konversationserfahrenen Deern, und schon sind wir im Haus – und stellen fest, dass es auch nicht ‘uns Huus’ werden wird. Was hier noch zu investieren ist, überschreitet unsere Möglichkeiten und lässt sich nicht aus der Ferne regeln.

Doch jetzt schauen wir uns erst einmal an, was sich in Tönning seit März alles verändert hat und was nicht.

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Sonntag, 24. September 2006

Hatten wir den Sommer im Juni nach Irland gebracht, so haben wir ihn auf dieser Reise mit nach Tönning genommen. Älter ist er geworden und begleitet uns nun als Altweibersommer, wobei der englische Begriff Indian Summer sehr viel schöner klingt.

Bisamratte im Katinger Watt, © 2006 Juergen KullmannWir sind unterwegs nach Vollerwiek, aber was hockt denn da dick und fett beim Lunch am Wegesrand und lässt sich durch die zwei Radfahrer nicht im mindesten stören? Ein ausgebüchster Hamster? Nein, mit einem solch dünnen Schwanz muss das eine Bisamratte sein. Herr oder Frau Bisam? Wer sich ungeachtet einer klickenden Kamera so genussvoll mit seinem Löwenzahn-Salat beschäftigt, kann nur eine Dame sein. Ein toller Pelz, meint mein Mädchen, worauf Frau Bisam nun doch etwas misstrauisch zu uns hoch äugt.

Wir fahren weiter über den Mitteldeich ins Katinger Watt, eine Schafherde weidet rechts des Dammes in den feuchten Marschwiesen. Im März passierten wir hier einen Schafskindergarten. Was wohl aus den Lämmern geworden ist, sind sie groß geworden oder wurden sie aufgegessen? Mien Deern sieht mich böse an: “Groß geworden natürlich, da vorne laufen doch die Youngster.”

Ein Stück weiter des Weges liegt ein kleiner, langgestreckter See im Naturschutzgebiet des Vorlands. Obwohl auf dem Deich ein spürbarer Wind weht, erscheint seine Oberfläche völlig unbewegt, und die am jenseitigen Ufer liegenden Schafe spiegeln sich im Wasser. Sie machen auf Seehund, und es gelingt ihnen hervorragend.

Zwanzig Minuten später stehen wir auf dem ‘richtigen Deich am richtigen Meer’, heute ist das Wasser nicht vor uns davongelaufen. Bei moderatem Seitenwind strampeln wir uns ab bis zur Badestelle Vollerwiek. Die Bank vor der DLRG-Station ist zwar noch frei, doch wir haben Hunger und verziehen uns in den Imbiss An de Diek hinter dem Deich. Für jeden vier Scampispieße mit sauer eingelegten Paprikastreifen und dazu Kartoffelsalat – das ist purer Luxus und superlecker hier unter dem Sonnenschirm in dem kleinen Gärtchen, umgeben von Heckenrosen, deren einstige Blüten zu dicken roten Hagebutten geworden sind. Links von uns ein netter Herr, schlank und rank und wohl schon jenseits der achtzig. An seinem Gürtel hängt ein Autoschlüssel. Er erinnert mich an einen 92-jährigen Bauern, ich glaube von der Insel Pellworm, den ein Reporter des NDR vor einigen Wochen im Fernsehen interviewte: Nein, meinte der Inselmann, sein 30 Jahre altes Auto sei noch ganz in Ordnung und er sehe keinen Grund, sich ein neues zu kaufen. In ein paar Jahren vielleicht.

Die Scampispieße mag er auch, verrät uns unser Tischnachbar, bei schönem Wetter esse er immer hier – mal die Scampi und mal die Kartoffelpuffer. Und heute ist Kartoffelpuffer-Tag.

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Montag, 25. September 2006

In aller Herrgottsfrühe weckt uns der Autoverkehr und wir schließen das Fenster. Nur so lässt es sich weiterschlafen. Die ‘kleine Villa’ ist nichts für uns, unabhängig von der Autowerkstatt auf der Grundstücksgrenze.

Die gestrige Fahrradtour hat einige Körperteile derart strapaziert, dass wir die Drahtesel im Schuppen lassen. Ein Autoausflug nach St. Peter-Ording ist angesagt, doch zuvor machen wir einen Spaziergang über den Marktplatz. Die kleine Buchhandlung Carpe Diem gibt auf, heute ist der letzte Verkaufstag. Schade, im März waren wir hier zu einer Lesung.

Der Laden habe sich nicht gerechnet, erzählt uns die Inhaberin, sie sei schon zufrieden, wenn sie ohne große Schulden aus dem Unternehmen wieder herauskomme. Jetzt habe sie erst einmal einen Minijob, die Durchführung von Bastelkursen in einem Husumer Kreativladen. “Aber davon kann man doch nicht leben?” haken wir vielleicht etwas unhöflich-neugierig nach. Sie zuckt mit den Schultern. In Dänemark gebe es noch Arbeit, doch eher für Handwerker, und in Österreich suche man für die Wintersaison Servicekräfte im Hotel- und Gaststättengewerbe – sie müsse mal sehen.

*  *  *

Viele Stunden später sitzen wir auf der Bank vor der DLRG-Station von Vollerwiek, St. Peter-Ording hatte uns heute nicht zugesagt. Wir waren für € 2,50 pro Person auf die Sandbank gewandert und mein Mädchen hatte ihre von unzähligen Mückenstichen geschwollenen Füße im Salzwasser gebadet. Anschließend hatten wir uns die Kurtaxe durch eine Strandkorbbesetzung wieder zurückgeholt. Er stand von seinen Mietern verlassen nahe der Wasserkante, die Leihgebühr hätte sechs Euro betragen. Doch trotz des leeren Strandkorbs war es uns zu voll, im Spätherbst und Winter gefällt der Ort uns besser.

Unten stapft ein Mann mit zwei kleinen Mädchen ins Watt, geschätzt vier und sechs Jahre alt. Amelie und Eva, die kleine Amelie ist seine Tochter und Eva vermutlich ihre Freundin. Ob er weiß, dass der Wind jedes seiner Worte zu uns heraufträgt? So erfahren wir – er erklärt es Eva – dass er als Wissenschaftler an der Universität Tübingen arbeitet. Dem angemessen didaktisch-klug-gelehrig fallen seine Erläuterungen der Meeresfauna aus, während Amelie ihren Eimer durchs flache Wasser zieht – – – bis dann ein lauter Ruf von Eva über das Watt und das Ufer schallt:

Amelie hat einen Krebs gefangen,

AMELIE HAT EINEN KREBS GEFANGEN!

Die fabelhafte Welt der Amelie.

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Dienstag, 26. September 2006

In der Nacht regnet es, und das nicht zu knapp, doch dann schließen sich die Schleusen des Himmels. Wir fahren nach Husum.

Es ist ein Tag, an dem die ‘graue Stadt am grauen Meer’ ihrem Namen endlich einmal Ehre macht. Die Farbe des Meeres lässt sich nicht beurteilen. Nur ein armseliges Rinnsal zieht sich durch den grauen Schlick des Hafenbeckens, als wir die schmale Brücke hinter dem Rathaus überqueren.

De harr al längstens Weltverkehr,
wenn he en beten natter weer –

– der hätte längst schon Weltverkehr, wenn er ein bisschen nasser wär, lautet eine Zeile aus einem Gedicht des langjährigen Bürgermeisters Emanuel Gurlitt (1826–1896), mit der er den Hafen kommentierte. Bei allem Wassermangel hatte der Ort seine Bedeutung einer verheerender Sturmflut zu verdanken, die 1362 weite Teile der Küste überspülte und das heutige Husum – der Name wird erstmals 1409 erwähnt – über Nacht zur Hafenstadt machte. Alten Chroniken zu Folge kamen bei dieser Ersten Groten Mandränke an der gesamten deutschen Nordseeküste 100.000 Menschen ums Leben, eine Zahl, die heute stark angezweifelt wird. Da die Bewohner Husums nun einen direkten Zugang zum Meer besaßen, nutzten sie die ‘Gunst der Stunde’, richteten einen Markt ein und machten das Städtchen zu einen blühenden Marktflecken.

Wie es scheint, ging es im 19. Jahrhundert im öffentlichen Dienst recht gemächlich zu, denn nicht nur der Husumer Bürgermeister hatte Zeit zum Dichten, sondern auch der Landvogt und spätere Amtsgerichtsrat Theodor Storm, der ein paar Häuser weiter in der Wasserreihe residierte. Das Haus ist nach längerer Renovierung für die Öffentlichkeit wieder zugänglich, nun aber nicht mehr grün, sondern grau gestrichen. Vielleicht eine Hommage an die ‘graue Stadt am Meer’?

Eingang Stormhaus Husum, © 1999 Juergen KullmannAb Ende November heißt es hier an den Sonnabenden ‘Zu Gast bei Theodor Storm’, eine literarisch-kulinarische Veranstaltungsreihe für den etwas gefüllteren Geldbeutel, über den Storm nicht verfügte. Für 53 Euro wird bei Kaffee und Gebäck aus seinen Geschichten zur Weihnachtszeit gelesen, eine Führung durch das Storm-Haus gefolgt von einem literarischen Stadtrundgang vermittelt dann einen Einblick in sein Leben, und zum Schluss darf sich der werte Gast ein ‘Menü nach dem Geschmack des Dichters’ munden lassen.

Und wir? Wir erstehen eine Jeans. Anschließend kühlt mien Deern ihre immer noch von Mückenstichen geschwollenen Füße im Brunnen am Markt, gleich gegenüber dem Geburtshaus des Dichters, das nicht mit seinem späteren Wohnsitz in der Wasserreihe zu verwechseln ist und heute ein Uhren- und Schmuckgeschäft beherbergt.

*  *  *

Auf dem Heimweg machen wir einen Abstecher zum Roten Haubarg nach Witzwort, vor dem im Sommer eine Statue seines Erbauers enthüllt wurde – es war der mit dem Pferdefuß. Hier die in vielen Versionen überlieferte Geschichte:

Erbauer des Roten Haubargs, © 2007 Juergen KullmannEin armer Jüngling aus dem Adolfskoog hatte sich in die schöne Tochter eines reichen Bauern verliebt. Der sah das gar nicht gerne, willigte aber schließlich unter der Bedingung ein, dass er seiner Tochter in einer Nacht ein standesgemäßes Haus baue. Der junge Mann gab den Auftrag an den Teufel weiter und offerierte ihm seine Seele, davon ausgehend, dass selbst der Teufel das Haus nicht fertig bekäme und dem Schwiegervater in spe der Rohbau wohl reiche.

Der Teufel aber legte ein Tempo vor, von dem heutige Bauherren nur träumen können. Die Mauern schossen hoch wie Pilze, das Dach ward eingedeckt, und als die Nacht dem Morgen zu weichen begann, fehlten nur noch die Fenster. Der Teufel war bereits dabei sie einzusetzen, da rannte der Jüngling zum nächsten Bauern, schnappte sich dessen Hahn und zwickte das Tier. Der Hahn begann zu krähen. Der junge Mann ließ ihn frei und schlenderte zum Teufel hinüber. “Tja”, sagte er, “dat mit de Seel ward ja nu wohl nix, dat letzte Fenster is ja noch nich drin.” Nach längerer Diskussion gab sich der Teufel geschlagen, und der Habenichts bekam seine Angebetete.

Die Scheibe im letzten Fenster des Roten Haubargs aber fehlt bis heute, und so oft man versucht sie einzusetzen, zerbricht sie in der darauf folgenden Nacht.

Gerne würde ich jenes Fenster fotografieren, das der Teufel nicht mehr fertig bekam und in dem keine Glasscheibe hält — doch verdammt noch mal, wo ist es? Auch nach mehrmaligen Umrunden des Haubarks kann ich es nicht entdecken. Zum Teufel mit dem 99sten Fenster!

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Mittwoch, 27. September 2006

Um drei haben wir in Tönning einen Termin mit dem Bürgermeister von Oldenswort – in seiner Eigenschaft als Immobilienmakler. Was tun bis dahin? Wir fahren nach Garding.

Auch in Garding werden Häuser verkauft, hübsche und weniger hübsche, bezahlbare und weniger bezahlbare. Ein recht hübsches und bezahlbares findet sich an einer Ecke in ‘Cityrandlage’, doch wer versetzt es uns nach Tönning? Später fahren wir weiter ans Meer und setzen uns auf die ‘schönste Bank von ganz Eiderstedt’, wie die Dame auf dem Deich bei Vollerwiek meint, während sie auf der Bank ein Stück für uns zu Seite rückt.

Wenn wir jetzt auf unseren Deichen stehen, so blicken wir in die baumlose Ebene wie in eine Ewigkeit; und mit Recht sagte jene Halligbewohnerin, die von ihrem kleinen Eiland zum erstenmal hierher kam: „Mein Gott, was is de Welt doch grot; un et gifft ok noch en Holland!“ (Theodor Storm)

Lange haben wir nicht Zeit, um in diese Ewigkeit zu blicken, wir wollen den Termin mit unserem Makler nicht verpassen.

*  *  *

Wir sitzen vor der Eisdiele am Markt und warten auf die Verabredung, wobei mir einfällt, dass ich noch nichts vom Hochdorfer Garten geschrieben habe, den wir heute Vormittag als erstes aufgesucht hatten. Zitat aus einer Schrift des Landesamts für Denkmalpflege Schleswig-Holstein:

“Der Hochdorfer Garten gilt als einer der wenigen erhaltenen Gärten eines Großbauern aus dem 18. Jahrhundert. Er entstand ab 1764 zusammen mit dem Neubau des Hochdorfer Haubargs nahe der Ortschaft Tating. [...]

Abweichend von den vorwiegend adligen Auftraggebern entstand der Hochdorfer Barockgarten auf Initiative eines Großbauern. Anlässlich der Heirat seines Neffen und späteren Erben Hermann Richardi ließ der vermögende Großgrundbesitzer Mathias Lorenzen 1764 einen Haubarg samt Gartenanlage errichten. Die repräsentative Ostfassade des Gebäudes bildet den Ausgangspunkt der Symmetrieachse, die als Fußweg den Garten durchzieht. Vor der Fassade erstreckt sich ein aus vier Baumreihen bestehendes Lindenquartier. Ein nach holländischen Vorbildern angelegter Kanal, der von einer weißen Holzbrücke überspannt wird, durchschneidet die Hauptachse rechtwinklig. Drei auf der Hauptachse platzierte Lindenrondelle markieren weitere Querachsen. Der ehemals in zehn Quartiere (Obstbäume, Gemüse- und Blumenbeete) unterteilte Barockgarten wird im Norden und Süden von zwei Alleen eingefasst.”

Ruine Hochdorfer Garten, © 2006 Juergen KullmannAlles wirkt etwas verwunschen, versteckt und geheimnisvoll, fast vergessen, so wie der Geheime Garten in Frances Hodgson Burnetts fast einhundert Jahre alten Kinderbuchklassiker. Dazu bei trägt eine um die vorletzte Jahrhundertwende errichtete künstliche Ruine an seinem südlichen Rand, die einem Gemälde Caspar David Friedrichs nachgebildet sein soll und ein Geschenk des Gutsherren an seine Ehefrau war. Langsam wird sie zu einer echten.

Der Zugang zum Garten ist nicht leicht zu finden, was auch an den Roman erinnert. Im August wurde an dem Kanal, der sich hindurch zieht, ein Klootstock-Springen veranstaltet, ein vermutlich sehr gefährliches Unterfangen, denn auf einem Gedenkstein unweit des Wassers findet sich die Inschrift ‘Unseren Vermissten und Gefallenen’. So manch einer scheint in den Graben gefallen und seither vermisst zu sein.

Aber ich muss noch etwas über die Kirche von Tating zu Papier bringen, die wir zuvor besucht hatten; sie ist die älteste auf der Halbinsel Eiderstedt. Doch da kommt schon Herr *** und ich klappe das Notizbuch zu.

*  *  *

Es war ein nettes Gespräch mit dem Makler, dem wir von unseren bisherigen Erfahrungen bei der Haussuche berichteten. Wir hatten ihn zu einem Eis eingeladen. Mit der Rechnung bringt uns die Bedienung eine Bewirtungsquittung; sie hat Treffen wohl für ein Geschäftsessen gehalten.

Wir brechen auf, schlendern durch den Herrengraben und die Deichstraße in Richtung Hafen. “Moin, wieder im Lande?” Es ist die Vermieterin einer Ferienwohnung, in der wir seit fast zehn Jahren Stammgäste sind. “Mist”, denke ich, “jetzt glaubt sie, ihre Wohnung ist uns nicht mehr gut genug!” Also verraten wir, dass wir ihr nur deshalb untreu geworden sind, weil wir gerade ein Haus ‘zur Probe bewohnen’, eines, das uns als Kaufobjekt interessiert hatte, auch wenn es nun doch nicht in Frage kommt.

“Ach wirklich?” sie schaut uns neugierig an. Ob sie sich mal umhören und Bescheid geben solle, wenn sie von einem zu verkaufenden Haus erfahre? “Klar doch!” zeigen wir uns begeistert und versuchen zu erklären, wonach wir suchen.

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Donnerstag, 28. September 2006

NDampffähre Tönning, © Public Domain (bearbeitet)ach zwei Jahren Pause fahren wir wieder einmal mit dem Rad nach Friedrichstadt, die Tour hier eingezeichnet in Google Maps. Hinter der Eiderbrücke geht es auf Dithmarscher Seite links den Damm hinunter und wir passieren ein früheres Eisenbahnhotel; es war der Endbahnhof der ehemaligen Strecke Heide-Weddinghusen-Karolinenkoog. Wer von Süden kommend weiter nach Husum wollte, fuhr laut Theodor Storm in “sechs bis sieben Minuten” mit einer Dampffähre – oben ein geradegerücktes Foto eines unbekannten Autors aus dem Jahr 1900 – über die Eider, um sich dann “mit dem Menschenstrom” zum Tönninger Bahnhof zu begeben, von wo aus es in einer ¾ Stunde mit dem Zug in seine Geburtsstadt ging. Eine Reise, die er wohl mehrfach unternommen hatte, nachdem er sich 1880 mit seiner Familie in Hadermarschen niedergelassen hatte.

Wir aber wollen nach Friedrichstadt. Das Städtchen empfängt uns im schönsten Sonnenschein, doch kaum ein Ausflugsschiff fährt durch die Grachten. Die aprikotfarbene Bluse – im März gesehen und nicht auch noch zu kaufen gewagt – hängt noch bei Frau Pölkow im Laden und geht dieses Mal mit; das grüne Top daneben würde auch gefallen, gibt es aber nicht in der passenden Größe.

Friedrichstadt, © 2006 Juergen KullmannIn einem Restaurant an der Treene genießen wir zu Kartoffelplätzchen Graved Lachs an einer Senfsauce, dann geht es wieder heim. Fast trennt uns der Wärter der großen Eiderbrücke am Ortsausgang, hat schließlich aber ein Herz für Verliebte und wartet, bis mein Mädchen zu mir aufgeschlossen hat, ehe er sie sperrt und für einen Segler in Richtung Eiderstedt öffnet. Kurz hinter der Brücke macht der Fluss einen Knick nach Süden und entschwindet dem Blick, das Segel jedoch bleibt sichtbar und scheint in der Ferne über die Felder zu gleiten.

Wir radeln über andere Felder, die von St. Annen, und nähern uns Lunden. Die Bank einige hundert Meter vor der den Weg kreuzenden Marschenbahn gehört zu unseren Stammsitzen. Die Schranke senkt sich, und ein Intercity nach Westerland schiebt sich über die Flur, grau und langweilig. Erneut geht sie hinunter, und das sieht schon hübscher aus: ein Zug der Nord-Ostsee-Bahn in Richtung Heide, bunt und leuchtend die Waggons in der späten Nachmittagsonne. Schade, dass ich die Kamera nicht rasch genug aus dem Rucksack bekomme.

*  *  *

Wir sind wieder auf dem Fahrradsattel, der Himmel ist grau geworden. Arg verwittert als Relikt aus alten Zeiten begrüßt uns das Schild ‘Badestelle Wollersum’ am Ufer der Eider. In diesem Jahrtausend dürfte hier keiner mehr gebadet haben. Wir schieben die Räder über die buckelige Wiese bis zu einer Bank oberhalb eines in den Fluss reichenden Stegs. Drei Gestalten stehen unten am Wasser, ein Angler packt seine Siebensachen ein.

Ein Auto kommt über die Wiese geholpert und bleibt kurz vor dem Steg stehen. Eine nicht übermäßig schlanke Dame steigt aus. “Wenn, dann aber sofort!” ruft sie den am Ufer Wartenden zu, steht plötzlich im blauen Badedress da, läuft über den Steg und springt ins Wasser, das so grau und kalt wie der Himmel ist.

Uns schaudert es schon bei der Vorstellung und wir fahren nach Tönning zurück.

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Freitag, 29. September 2006

So ganz überzeugt waren wir bislang von noch keiner Maklerofferte – vielleicht deshalb, weil wir Tönnings rührigste Maklerin noch nicht konsultiert haben? Also klingeln wir am Vormittag bei ihr an und machen mit ihrem Ehemann, einem ausgewiesenen Experten für die Geschichte der Stadt, für 14 Uhr einen Termin aus.

Dann brechen wir zum 1937 fertiggestellten Norderheverkoog auf, der zur Gemeinde Osterhever gehört und gegenüber Nordstrand liegt, der Heimat ‘unseres’ Ministerpräsidenten. Auf unserer Radwanderkarte ist hier eine Badestelle eingezeichnet, was man vor Ort daran erkennt, dass es eine Rutsche und eine Schaukel gibt. Auf der Schaukel sitzen wir, die Rutsche verwenden wir nicht.

Nach einer Weile rutschen wir von der Schaukel und wandern über den kleinen Damm, der durch die Feuchtwiesen und das Watt ein Stück ins Wasser hinaus führt. Eine Gruppe geistig behinderter Jugendlicher tut es uns gleich und ist von den rot-grün leuchtenden Wiesen mit ihren unzähligen schimmernden Wasserlachen nicht weniger beeindruckt.

*  *  *

Garten der kleinen Villa, © 2006 Juergen KullmannNun stehen wir auch in der Interessenten-Kartei von Eider-Immobilien Tönning. Ein erstes Objekt wurde gerade besichtigt, doch entsprach es nicht annährend unseren Vorstellungen. Haben wir unerfüllbare Träume? Wir sitzen im Garten der kleinen Villa und ziehen das Resümee der letzten Tage, ehe es morgen wieder nach Dortmund geht. Seit zwei Jahren sind wir konkret auf Haussuche und seit mindestens fünf studieren wir Immobilienanzeigen. Werden wir ‘uns Huus in Tönning’ je finden?

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Reiseberichte Friesland: 16. Reise, Herbst 2006
© 2006-2010 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 31.01.2011