Dem Abendrot entgegen

– Jahreswechsel 2005/2006 –

 

Sonntag, 25. Dezember 2005

Zunächst kommt es uns vor, als würden wir in die Osterferien fahren, doch das ändert sich, als wir hinter Delmenhorst in Nebelbänke geraten. Zwischen Bremen und Hamburg warnt der Verkehrsfunk vor Straßenglätte. Vielleicht wird es ja doch noch Winter.

Es dämmert schon, als wir den Nord-Ostseekanal überqueren, dunkle Wolkenstreifen im Westen und zwischen ihnen Glut am Horizont. Ein Schiff nähert sich von der baltischen See kommend der Brücke, doch ich muss geradeaus schauen, geradeaus, bis die Autobahn hinter Heide zur Bundesstraße wird und links voraus der Kirchturm von Tönning auftaucht. Die Straßenlaterne wirft ein schummriges Licht auf uns, als wir die Reisetaschen und Lebensmittelkiste in unsere Dachstübchen in der Süderstraße tragen.

Ein Rundgang über den Hafen, vorbei an den Restaurants und dann durch die Stadt. Ein Jahr lang waren wir nicht in Tönning, und der Herrengraben ist immer noch eine Baustelle. Hoffentlich sehen uns die Wulffs nicht und merken, dass wir schon wieder fremdgehen, statt ihre lütte Ferienwohnung zu buchen. Doch es geht nicht anders, denn zum Jahreswechsel bekommen wir Besuch und brauchen ein zweites Schlafzimmer. Ihre Fassade haben sie erneuert, statt der glatten Riemchen ziert sie nun ‘rauer friesischer Backstein’. Sieht gut aus!

*  *  *

Der Gastraum im Roten Hahn wurde umgestaltet, nicht zum Besseren, finden wir. Die Theke ragt jetzt als Karree in den Raum und erinnert zu dieser Tageszeit an die Trostlosigkeit der Bar auf Edward Hoppers Bild Nachtschwärmer. Ein neuer Pächter versucht sein Glück. Wir riskieren es und gehen hinein. Das Essen ist gar nicht so übel, auch wenn sich das bestellte Lamm bei näherer Analyse als Rind herausstellt. Als Wiedergutmachung gibt es zwei Bier auf Kosten des Hauses.

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Montag, 26. Dezember 2005

Es ist windig, ob man es merkt oder nicht, hängt von der Gehrichtung ab. Zunächst merken wir es nicht und freuen uns über die Abendsonne, die dann und wann durch die Wolken dringt.

Wir sind auf dem Eiderdeich unterwegs. Jenseits des gemächlich dem Meer entgegen fließenden Stroms rotten sich am Dithmarscher Ufer in breiter Front Windräder zusammen, darüber dunkle Wolkenfelder, durch die manchmal etwas Gold dringt, das sich im Wasser fortsetzt.

Wir wandern bis zum Ende der gepflasterten Deichkrone und dann unten am Wasser entlang zurück. Jetzt spüren wir den Wind. Vorsichtig, denn er ist arg glitschig, bewegen wir uns an der Badestelle auf den Steg in die Eider hinaus. Schiffe legen hier schon lange nicht mehr an, die Zeit einer Tönning-Australien-Linie liegt 100 Jahre zurück.

Was vom Land ins Meer ragt, sei es ein Steg, eine Landzunge oder ein Felsvorsprung, übt seit Menschengedenken eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Landbewohner aus, manchmal auch auf Seebewohner wie Meerjungfrauen, wie den Sagen und Mythen der Menschheit zu entnehmen ist. Doch weder eine Meerjungfrau noch ein verzauberter Seehund wartet auf uns am Ende des Steges, und so verlassen wir ihn und stapfen über die raureife Wiese zu dem Unterstand auf dem Deich hoch, setzen uns auf die Holzbank und betrachten die nunmehr rote Glut am Horizont.

Sonnenuntergang an der Eider, © 2008 Ines HanischEine Dame kommt über den Deich und setzt sich zu uns. Auch nicht von hier, denken wir bei ihrem Tonfall, aber irgendwie doch ein bisschen. In Hamburg geboren, sei sie nach dem Krieg auf Pellworm aufgewachsen, erzählt sie uns, eine Insel, die sie dringend für einen Tagesausflug empfehle. Sylt oder Amrum könne man vergessen! Später habe es sie und ihren Mann nach Köln verschlagen, bis sie schließlich nach seiner Pensionierung vor zwei Jahren in Tönning sesshaft wurden.

Vor zwei Wochen ist ihr Mann nun gestorben. Ihre Kinder hätten versucht, sie zurück nach Köln zu holen, doch sie wolle nicht mehr von hier weg. Sie steht auf und geht.

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Dienstag, 27. Dezember 2005

Über Nacht ist Schnee gefallen und nicht zu knapp. Mit einem Schrubber, den wir unten im Hausflur finden, befreien wir das Auto, das wir als das unsere vermuten, von einer fünfzehn Zentimeter hohen Schneeschicht. Es ist das unsere, also geht es an die Feinarbeit mit Handfeger und Gummifletsche. Dann schlagen wir uns nach St. Peter Ording durch.

Wir bummeln durch die Läden, ungewöhnlich leer ist die Buchhandlung. Dann geht es über die vor drei Wochen eingeweihte neue Seebrücke auf die Sandbank hinaus. Doppelt so breit wie ihre Vorgängerin ist sie, bis sie auf den letzten Metern in den verbliebenen Rest des alten Stegs übergeht. Ist an dieser Stelle das Geld ausgegangen, oder will man ein Stück Geschichte für kommende Generationen bewahren? Aus der Zeit der alten Seebrücke stammt auch noch die Arche Noah:

“1959 herrschte in Deutschland das Wirtschaftswunder: Die Autos zierten große Heckflossen, Ted Herold, Freddy Quinn, Dalida und Peter Kraus dominierten die Hitparaden. In diesem Jahr errichtete das Urgestein St. Peter-Ordings, Horst Wieben, seinen ersten Pfahlbau auf der Sandbank und nannte ihn ‘Arche Noah’. Das war der Anfang der Legende am Strand von St. Peter-Ording. Erleben auch Sie diesen historischen Ort und dieses außergewöhnliche Restaurant am Strand von St. Peter-Ording – hautnah mit Meeresblick und Strandpanorama erster Klasse. ...”

Dieser Aufforderung von der Website der Arche Noah würden wir gerne nachkommen, doch die Arche ist geschlossen, und es sieht nicht danach aus, als ob dieses Rasthaus am Ende des Universums zum Jahreswechsel öffnen würde. Ein Pfütze aus Schneematsch unten vor der Treppe, und nirgendwo ein Hinweis, wann man zu öffnen gedenkt. Ich stopfe mir gegen den kalten Wind etwas Watte in die Ohren, und wir wandern zur Wasserkante hinaus.

*  *  *

Am Nachmittag sitzen wir in Kerlins Kupferpfanne in Garding. Es gibt eine neue Speisekarte, doch wir entscheiden uns wieder einmal für den Klassiker ‘Rösti Provencale’, Rösti mit Lammfilet und nicht wenig Knoblauch. Ob er bereits auf der Karte stand, als Günter Kerlin 1975 aus der Schweiz kam und das Restaurant eröffnete?

Logo Kerlins Kupferpfanne

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Mittwoch, 28. Dezember 2005

Arge Halsschmerzen bekam ich heute Nacht und fühle mich nicht ganz ‘auf dem Deich’. Zudem ist weiterer Schnee gefallen. Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt ist es rutschig auf den Straßen, und die Tochter unserer Vermieterin empfiehlt, mit der Bahn statt mit dem Auto nach Husum zu fahren.

Da passt es ganz gut, dass ich sowieso lieber Bahn als Auto fahre, und besonders gerne mit dem Eiderstedter Friesenblitz. Tönning, welche 5000-Einwohner-Stadt kann da mithalten, hat einen Bahnhof, in dem die Fahrkarten von einem Menschen statt von einer Maschine ausgegeben werden, und das bis 23 Uhr. Außer es läuft gerade ein Zug ein oder aus, denn das würde die Personalunion von Bahnhofsvorsteherin, Fahrdienstleiterin, Schrankenwärterin und Fahrkartenverkäuferin überfordern. € 17,50 kostet die Fahrt für uns zwei nach Husum und zurück. Fünf Personen hätten das gleiche gezahlt, doch woher so rasch drei weitere Mitreisende nehmen?

Ja mach nur einen Plan,
Sei nur ein großes Licht,
Willst kaufen dir ’ne Winterjack’,
Eine finden tust’e nicht ...

Da hilft weder Bert Brechts Lyrik noch helfen C.J. Schmidts allweihnachtliche Sonderangebote wegen C.J. Schmidts alljährlichem Umbaus. Dabei fing der Einkaufstrip so gut an. Aus dem Zug gestiegen, ein paar hundert Meter gelaufen und in die ersten Ausläufer der Husumer Einkaufsmeile eingeschwenkt, und schon decke ich mich im ersten Laden – Wäscheprojekt nennt er sich – mit zwei Hemden ein und wenige Meter weiter im Jeansprojekt mit zwei Jeans. Mein Mädchen wundert sich über ihren Einkaufsmuffel.

Doch das war es dann auch schon, und so werde ich die aktuelle Winterjacke, in der Abenddämmerung des letzten Jahrtausend bei Westensee in Tönning erworben, trotz ihrer ausgefransten Ärmel die Saison noch zu Ende tragen.

Das Schlosscafe ist zwischen den Jahren geschlossen, doch der Husum Pub geöffnet. Zu jeweils einem Fast-Pint (es fehlen daran 68,26128524935 Milliliter) Guinness ordern wir eine Friesenpizza und einen warmen Muschelsalat.

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Donnerstag, 29. Dezember 2005

Mein Mädchen kommt vom Brötchenholen zurück und bringt die Husumer Nachrichten mit. Die Schlagzeilen von heute Morgen:

24 Stunden fällt Schnee!
Jetzt kommt der Winter mit Macht!
Stürmischer Ostwind über Schleswig-Holstein!
Eine Wetterlage wie bei der Schneekatastrophe 1978/79!

Doch wann kommt er denn nun, der große Schneesturm? Der Blick aus dem Fenster zeigt ein bisschen Schnee vom vergangenen Tag und ein paar einsame Flocken, die vom Himmel fallen. Das ist alles. Wir fahren erst einmal nach Vollerwiek.

Vollerwiek Dezember 2005, © Juergen KullmannArg rutschig ist es auf den letzten zwei Kilometern, und wir sind erleichtert, dass uns auf der schmalen, verschneiten Straße kein Fahrzeug entgegenkommt. An der Badestelle parken wir das Auto und steigen den Deich zur verwaisten DLRG-Station hoch. Zum Meer abfallend eine weiße Schneelandschaft, dann das Wasser und darüber ein grauer Himmel mit einem hellen Fleck. Dahinter muss sich die Sonne verbergen. Ein verliebtes Paar wandert Hand in Hand die Wasserkante entlang.

Zehn Minuten später stehen wir selbst an dieser Wasserkante, bis es uns zu kalt um die Ohren wird und wir zum Auto zurückstapfen und nach Garding fahren. Nach einem Bummel durch die Stadt stranden wir erneut in Kerlins Kupferpfanne. Der Schneesturm lässt indes auf sich warten.

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Freitag, 30. Dezember 2005

Die Nordfriesen hatten ohnehin nicht an den großen Schneesturm geglaubt, sich nicht Bange machen lassen und im Unterschied zu anderen Regionen Schleswig-Holsteins keinen Notstandsplan mit Urlaubssperren für Sondereinsatzkräfte aktiviert. Das bisschen Wind sei normal zu dieser Jahreszeit, hörte man gestern aus der Einsatzzentrale der Polizei des Landkreises Nordfriesland, und kein Grund für einen besonderen Einsatzplan. Doch immerhin besetzte man die sechs nächtlichen Streifenwagen doppelt, was den von den Meteorologen angekündigten Blizzard derart verschreckte, dass er einen Bogen um Nordfriesland machte. Nur die Föhrer bekamen etwas ab. Immerhin hatte sie ein Sturm einst zu Inselbewohnern gemacht, denn bis zur ersten Groten Mandränke im Jahr 1362 gehörte Föhr zum Festland.

Wir sind auf dem Weg nach Friedrichstadt. Links der Bundesstraße scharren sich schwarzköpfige Schneeschafe auf der Suche nach etwas Grün durch das Weiß und sehen dabei ganz zufrieden aus. Im Städtchen finden wir einen kostenfreien Parkplatz am Edekamarkt und wandern durch die menschenleere, verschneite Hauptgasse, die man mit etwas guten Willen als Einkaufsmeile bezeichnen kann.

Die meisten Läden sind geschlossen, sei es wegen der Mittagspause oder ob des Wartens auf die neue Saison. Wann diese beginnt? Da mag man sich nicht festlegen:

Wir machen Ferien vom
14.11. bis ??

liest man hinter einer Tür, die nicht zum Modestübchen Moderat gehört. Denn in diesem ist mien Deern hochwillkommen und verlässt es nach einstündigem Mode-Rat durch Frau Pölkow mit zwei Teilchen zu einem nur bedingt moderaten Preis, den ich hier nicht nennen möchte. Am Nachmittag gesellt sich bei Eggers in Tönning das passende Paar Schühchen hinzu.

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Sonnabend, 31. Dezember 2005

Bei Temperaturen knapp oberhalb des Gefrierpunktes regnet es. Unangenehm! Wir fahren zum neuen Edeka-Laden nach Garding, um ein paar Dinge für heute Abend einzukaufen, und dann weiter nach St. Peter Dorf. Ein paar Läden sind noch geöffnet, doch eine neue Winterjacke finde ich auch hier nicht. Ehe wir ausdiskutiert haben, ob wir noch ans Meer wollen, kommt so viel Wasser von oben, dass wir ins Auto flüchten und nach Hause fahren.

Gegen Abend sinken die Temperaturen und es fällt Schnee. Kurz vor fünf schliddern wir zum Bahnhof und holen Cousine Gisela ab.

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Sonntag, 1. Januar 2006

Ein Katerfrühstück wird es mangels hinreichender Verkaterung nicht. Eine halbe Stunde nach Mitternacht, die Knallerei ließ langsam nach und der Pulverdampf verzog sich aus den Gassen, hatten wir einen etwas melancholisch-nachdenklichen Rundgang um den Hafen und durch die Stadt gemacht und waren mit klarem Kopf zu Gisela in unser Feriendomizil zurückgekehrt.

Unser Sylvesterbesuch war einige Stunden zuvor mit dem 17-Uhr-Zug aus Husum eingetroffen, nach einer Ganztagsreise aus Gevelsberg mit siebenmaligem Umsteigen, denn so ein 25-Euro-Ticket gilt nur für Nahverkehrszüge. Sie habe den Tag in vollen Zügen genossen, meinte Gisela, und das reiche ihr für einen Sylvestertag, den sie sich vor zwei Monaten noch ganz anders vorgestellt hatte. Da war sie gerade ein gutes Jahr verheiratet gewesen, und jetzt ist sie seit sechs Wochen Witwe.

*  *  *

Was macht man an einem ersten Januar in St. Peter-Ording (Bad)? Keine Frage, man wandert über die Seebrücke auf die Sandbank hinaus. Nicht nur wir. Es ist milder als am letzten Dienstag. Gisela ist nicht gut drauf, und so machen wir nur einen kleinen Bogen um die Arche Noah. Dann geht es in den Ort zurück und wir suchen uns ein Café.

Seebruecke St. Peter-Ording, © 2009 Juergen Kullmann

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Montag, 2. Januar 2006

Die beiden Mädels haben beschlossen, dass wir zu dritt nach Heide wollen – da erübrigen sich eigene Überlegungen. Davon abgesehen brauche ich noch ein Foto von Klaus Groths Geburtshaus, so dass ich mich nicht sonderlich sträube.

Klaus Groth Haus, Heide, © 2006 Juergen KullmannDer Weg vom größten Marktplatz Deutschlands zu Groths Geburtshaus ist nicht zu verfehlen. Es ist, wie so oft im Leben: zunächst geht es durch die Himmelreichstraße und dann durch die Hölle. Ob man so auch zum Standesamt kommt? Leider habe ich die Straßenschilder nicht fotografiert.

Hier verlebte Klaus Groth seine Kindheit und Jugend. Ob er später als Lehrer der örtlichen Mädchenschule auch durch die Hölle gegangen ist? Nach 1912 wurde das Haus durch eine private Initiative vor dem Abbruch gerettet und in den Zustand zurückversetzt, in dem es sich zu Groths Jugendzeit befand.

Aber jetzt wollen die Deerns shoppen und zerren mich nach Böttcher, dem größten ‘Textilvollsortiments-Warenhaus Dithmarschens’. Mehr als 150 Jahre nach seiner Gründung ist es immer noch im Familienbesitz, und damit das auch so bleibt, gebe ich nach und lasse mich zu einer neuen Winterjacke überreden. So ganz überzeugt bin ich von der Wahl nicht, doch was will man machen, wenn die Damen meinen, dass sie mir steht?

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Der Tag geht zur Neige und wir fahren zum Eidersperrwerk, wollen noch einmal das Meer sehen, ehe es morgen zurück nach Dortmund geht. Doch wir finden nur mit Mühe aus Heide heraus, so dass wir den Sonnenuntergang knapp verpassen. Die Dämmerung hat eingesetzt, aber noch ist Glut am Horizont und spiegelt sich im Wasser. Ein Liebespaar steht vor dem Schleusentor am Ende der Mole. Da tuckert es. Ein Schiff legt ab, wendet und fährt aufs Meer hinaus, dem Abendrot und einem neuen Tag entgegen.

Eidersperrwerk Januar 2006, © 2006 Juergen Kullmann

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Reiseberichte Friesland: 14. Reise, Jahreswechsel 2005/2006
© 2006-2010 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 10.02.2010