Dar ligt in’t Noorn ...

– Herbst 1998 –

 

Donnerstag, 1. Oktober 1998

Wir fahren erst gegen ein Uhr los und trudeln gegen sechs in Tönning ein. In den letzten Tagen lief einiges quer, doch jetzt sind wir da und nach dem Reinfall vom vergangenen Jahr begeistert ob der Unterkunft bei Frau Wulff.

Skizze FerienwohnungIn der ‘Hall’ ein runder Tisch mit vier Stühlen. Die Zimmerhöhe erinnert an Georgian Houses, die der Türen gleichfalls, und sollte sich der Stuck unter der Decke des kombinierten Living-and-Bedroom als Styropor herausstellen, werden wir gnädig darüber hinwegsehen. Da die Betten, wie in Georgian Houses üblich, ungepaart stehen, rücken wir sie zusammen.

Am Abend sind wir die einzigen Gäste im Cafe Hafenblick, ein oft schlechtes Zeichen für die Küche, meint mein Mädchen. Ergo schmecken ihr die Speckmuscheln nicht, was aber auch, gesteht sie nachsichtig ein, an ihren Geschmacksnerven liegen kann, die die hiesigen kulinarischen Genüsse mangels Training noch nicht hinreichend zu würdigen wissen. Doch man hat ja Zeit zum Üben! Dass meine Bratkartoffeln aufgewärmt auf den Tisch kommen, stimmt schon eher bedenklich.

Schwamm darüber, im Roten Hahn gibt es Köstritzer Schwarzbier als Guinnessersatz.

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Freitag, 2. Oktober 1998

Es war einmal ... ein Film mit Gregory Peck, ‘Sturmfahrt nach Alaska’ hieß er, oder so ähnlich. Ein Kinderspiel verglichen mit unserer Sturmfahrt von Vollerwiek nach Tönning! Nach Vollerwiek hingegen fuhren die Fahrräder so gut wie von alleine. Die Meergalerie von Frau Dreyer wollte uns nicht reinlassen, und so sitzen wir nun im Wind- oder besser Sturmschatten des DLRG-Häuschens oben auf dem Deich und schauen wohlgemut auf das bewegte Meer.

Ein Deichwanderer mit Fernrohr gesellt sich zu uns. Wohin wir denn mit unseren Rädern heute noch wollten? Nach Tönning? So, so! Windböen mit achtzig Kilometer pro Stunde aus Osten seien angesagt ...

Hm, wenn uns also der Wind mit 80 km/h entgegenkommt und wir ihm einen Kraftaufwand entgegensetzen, der einer Geschwindigkeit von 85 km/h entspricht, brauchen wir drei Stunden, um die 15 km zu bewältigen. Eine nordfriesische Milchjungen-Rechnung? Egal, wir brechen auf – und wissen am Abend, was man hierzulande unter dem Begriff Radwandern versteht. Im Roten Hahn gibt es immer noch schwarzes Aktionsbier, doch wir trinken weißen Wein.

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Sonnabend, 3. Oktober 1998

Verwandtschaft aus Castrop-Rauxel hat sich angesagt. ‘Buckelige’, pflegt man manchmal zu lästern, was in diesem Fall anatomisch nicht stimmt und zum anderen völlig unangebracht ist bei dem, was sie für den Renten-Generationsvertrag getan hat. Doch noch sind sie nicht da, die Sonne scheint, und so klemmen wir einen Zettel hinter die Scheibe unseres vor der Ferienwohnung parkenden Autos, dass wir am Hafen zu finden sind.

Alte Apotheke, © 1998 Jürgen KullmannWir bummeln über den Marktplatz, wo ich die alte Apotheke fotografiere, die endlich einmal von der Sonne beschienen wird.

Weiter zum Hafen. Der ist vom Städtchen abgedeicht, falls sich einmal eine Sturmflut die Eider hochkämpfen sollte um Tönning unter Wasser zu setzen. Dann werden die drei Stahltore geschlossen, durch die das fußfaule Volk an Tagen wie heute mit dem Auto in den Hafen rollt. Vor Fertigstellung des Eidersperrwerks kam das hin und wieder vor, seither nicht mehr. Doch gegen den Wind, der heute seewärts bläst, käme auch die abenteuerlustigste Flut nicht an.

Da sitzen wir nun im Windschatten eines Pumpenhäuschens neben einem der ‘Stöpen’, wie man die Durchfahrten nennt, auf dem Deich und betrachten das Treiben. Rechts voraus, noch vor der das Wasser zwischen Ober- und Unterhafen überspannenden Weißen Brücke (ein Fußgängersteg mit nach holländischer Art aufklappbarem Mittelteil), hat die schwimmende Spelunke Nautilus festgemacht. Schwimmend aber nur dann, wenn nicht gerade Ebbe ist und sie schief im Schlick liegt. Wie hat sie nicht unsere Fantasie angeregt. Wohl eine ganz normale schmuddelige Kneipe, doch die Vorstellung eines Schmugglertreffs ist zu faszinierend.

Wir stehen auf, schlendern an der Nautilus vorbei über die Brücke zur anderen Seite und warten auf einer Bank vor dem Goldenen Anker auf das Eintreffen unserer Besucher, die nicht lange auf sich warten lassen.

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Sonntag, 4. Oktober 1998

Nachdem wir noch gemeinsam im Goldenen Hahn zu Abend gegessen haben, reisen unsere Gäste ab. Es geht ganz schön ins Geld, eine Familie mit drei Kindern zum Essen einzuladen! Wie die wohl ihren Urlaub finanzieren? Und während sie 500 km nächtliche Autobahnfahrt vor sich haben, währt unser Rollin’ Home nur 500 Meter.

Am Vormittag hatten wir ihnen Friedrichstadt gezeigt, eine Grachtenfahrt unternommen und uns gewundert, dass (a) das Schiff bei nasskaltem Wetter so voll war, (b) Julian weder ins Wasser fiel, noch seinen Kopf bei einer Brückendurchfahrt verlor und er (c) die Hände trotz seiner Neigung, sie zwischen Spundwände und Schiff zu schieben, behalten durfte. Doch ganz ungeschoren kam er nicht davon: bei Ebbe von einer Mauer beim Hotel Fernsicht in den Schlick gesprungen, versank er bis zu den Knien in selbigem und kam brüllend und pechschwarz wieder heraus. ‘Hilfe Treibsand!’ hallte es über die Eider.

Wir schlendern durch den Hafen nach Hause, über die Weiße Brücke an der schummrig-düster beleuchteten Nautilus vorbei, hinter deren Kabinenfenster ein paar einsame Gestalten hocken. Was sie wohl aushecken? Und was machen wir morgen? Wenn sich das Wetter nicht bessert, fahren wir nach Husum!

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Montag, 5. Oktober 1998

Das Wetter hat sich nicht gebessert, und so fahren wir nach Husum, diesmal mit dem Auto statt mit der Bahn. Nicht Kultur, sondern Shopping steht auf dem Programm.

Die Ausbeute: Eine Bluse und ein Seidenpullover für die Liebste, ein paar Schuhe für mich – womit mir, so hoffe ich, für nächsten drei bis vier Jahren weitere Schuhkauf-Aktionen erspart bleiben. Und schließlich, gefunden in einem Antiquariat in der Hohlen Gasse, ein fast fünfzig Jahre alter Reisebericht von A. E. Johann aus seinem Irland, dem ‘Land des Regenbogens’. Anfang der 50-er Jahre wohnte er für eine Weile im früheren Haus des Obergärtners des von einer hohen Mauer umgebenen viktorianischen Gartens von Kylemore Abbey, gelegen am sonnigen Südhang eines Berges mit Blick auf den Dawros River. Vor drei Monate waren wir noch dort, wenn das kein Grund für den Kauf des Buches ist?!

Um anschließend Herrn Storm einen Besuch abzustatten, ist es zu spät, denn seine Verwalter machen um 17 Uhr Feierabend. Wir fahren heim nach Tönning.

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Dienstag, 6. Oktober 1998

Zur Abwechslung einmal ein sonniger Tag, himmelblaues Wasser und wasserblauer Himmel. Nicht so windig wie am Freitag, reden wir uns ein, und da mein Mädchen unbedingt die Galerie ihrer ‘Künstler-Kollegin’ in Vollerwiek* besuchen will, holen wir die Fahrräder aus dem Schuppen.

Meerkunst DreyerOb der Wind nun wirklich abflaut, daran kommen uns bald Zweifel, zunächst auf dem Deich bei Kating und dann unten am Wasser. Arg mühsam treten drei uns entgegenkommende Radfahrer in die Pedale. Frau Dreyer hat ihre Galerie am Meer geöffnet, und nachdem sie ihren Hund zur Räson gerufen hat, gelangen wir auch hinein. Eine nette Frau, sehr viel sympathischer als die Dame, der wir im Sommer ein Cottage-Aquarell abgekauft hatten, doch dummerweise sind ihre Bilder sehr viel teurer. So beschließt man, sich nur inspirieren zu lassen.

Auf dem Rückweg zeigt der Ostwind, wer hier an der Küste das Sagen hat. Wir aber trotzen ihm und kommen (fast) ohne schieben zu müssen nach Hause. Am Abend sind wir wieder im Roten Hahn, man kennt sich.

* Galerie und Atelier Dreyer, Westerdeich 1, 25836 Vollerwiek

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Mittwoch, 7. Oktober 1998

Es regnet schon wieder ... doch macht nichts, heute wollen wir ohnehin nicht in die Landschaft, sondern haben eine Verabredung mit der ‘dicken Cousine’, die von Westerland herüberkommt. Der zweite Besuch in diesem Urlaub. Am Bahnhof von Niebüll wartet sie schon, und auf geht’s nach Tønder in Dänemark.

Ein wirklich hübsches Städtchen, in dem an jedem letzten Augustwochenende des Jahres ein bedeutendes Folkfestival stattfindet, natürlich auch mit Teilnehmern aus Irland. Das letzte Augustwochenende ist längst vorbei, doch man findet auch so Irisches. Gleich der erste Laden, in den wir stolpern, führt in rauen Mengen und ‘riesigen Größen’, worauf unsere Begleiterin wert legt, Pullover made in Westport, County Mayo, sowie von den Araninseln. Im nächsten Laden: “Guck mal, sieht der Mantel nicht aus wie von Avoca!?” Es ist Avoca. Man scheint geschäftlich gute Kontakte zu Irland zu haben, vielleicht über gemeinsame Wikinger-Vorfahren?

Alte Apotheke TondernEin Erlebnis für sich ist Det gamle Apotek, die gammelige, Verzeihung, alte Apotheke in der Østergade 1. Velkommen til en spændende oplevelse, willkommen zum spannenden Erlebnis. Eine Verkaufsausstellung sondergleichen, über drei Etagen und im Keller hat bereits der Weihnachtsmarkt eröffnet. Doch ist die maritime Abteilung im ersten Stock auch noch so verlockend – wi kööpt nix! Dafür aber ein paar Läden weiter ein Bernsteinarmband für die Liebste.

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Donnerstag, 8. Oktober 1998

Wir wissen nicht so recht, was wir vom Wetter halten sollen, holen dann aber doch die Räder aus dem Schuppen. Im ‘Glashaus zur ersten Rast’, dem Unterstand auf dem Deich hinter dem Hotel Fernsicht, treffen wir ein etwas älteres Paar, die Frau gehbehindert, das uns schon vor einigen Tagen hier über den Weg lief. Man plaudert über Nordfriesland im Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter, bricht wieder auf und kapituliert bei Olversum vor dem einsetzenden Regen.

Altes Hospital, © 1999 Jürgen KullmannFür was ist eine Regenschauer gut, wenn nicht für einen Museumsbesuch! Beschäftigen wir uns also mit der Lokalgeschichte und besuchen das Eiderstädter Heimatmuseum Altes Hospital. Das 1602 erbaute Alte Hospital am Neuweg 47 ist, davon geht man aus, das älteste Haus der Stadt. Gleich nebenan soll das Ostertor der alten Festung gestanden haben, zu der Tönning im Dreißigjährigen Krieg wurde. Lange Zeit war es das Armenhaus der Stadt und beherbergt nun ein Museum.

In der unteren Etage geht es um die Stadtgeschichte, ein Schwerpunkt ist der Hafen und die Schifffahrt. Interessant, dass man die gerade erst eingeführte neue deutsche Rechtschreibung mit drei ‘f’s schon in 100 Jahre alten Dokumenten findet. Die Stadt wurde im Jahr 1187 als Tunnighen zum ersten Mal urkundlich erwähnt, wobei Tun das niederdeutsche Wort für Zaun ist. Schöner ist jedoch die Legende, dass sich der Ortsname von einem Schwan herleitet, der nach einer schweren Sturmflut auf einer Tonne angetrieben kam – ein Zeichen Gottes für das Ende der Flut. Noahs Taube reichte den Friesen nicht.

Im Obergeschoss besichtigen wir abschließend das Werk einer Tönninger Malerin, deren Namen ich vergessen habe, ich glaube es war eine Pastorenfrau. Mit Vorliebe malte sie Köpfe, die eigene Verwandtschaft und Tönninger Honoratioren, die nun auch schon zur Stadtgeschichte gehören.

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Freitag, 9. Oktober 1998

So auf ganz gutem Fuße stehen wir diesmal mit dem Wetter nicht – es regnet schon wieder. Wir fahren in die Landeshauptstadt der Dithmarscher, besuchen das Geburtshaus von Klaus Groth in Heide. Das inzwischen 200 Jahre alte Kleinbürgerhaus, in dem er Kindheit und Jugend verbracht hatte und während seiner Lehrerzeit an einer Mädchenschule wohnte, ist heute ein Museum. Auf dem Weg zur Schule könnte er durch die Hölle gegangen sein, zumindest musste er sie kreuzen. Die Schule befand sich nahe dem Alten Pastorat und existiert heute nicht mehr.

Groths Leistung besteht darin, lesen wir in einem Nachwort zu einer Gedichtsammlung, angeregt von Johann Peter Hebels Alemannischen Gedichten die seit langem ungepflegte plattdeutsche Sprache zum Klingen gebracht zu haben. Und dann weiter: “Er erzog sie durch Vers und Reim zur Form und legte dabei ihre rhythmischen und klanglichen Möglichkeiten in einer Weise frei, wie es keiner vor ihm für möglich gehalten hatte.”

Groth GesellschaftEs ist Mittag, und wir sind, wie dem Gästebuch zu entnehmen ist, die ersten Besucher des Tages. Alljährlich trifft sich hier am 24. April ein er- und belesener Kreis, um in originalgetreu eingerichteten Räumen bei Tee und Punsch Groths Geburtstag zu feiern, demnächst den 180sten. Wir erwerben für 2 DM pro Exemplar zwei ‘Jahresgaben’ der Klaus-Groth-Gesellschaft von 1980 und 82 und lesen, dass der Dithmarscher den schottischen Barden Burns, den wir im Februar im Scottish Writers’ Museum zu Edinburgh besucht hatten, sehr verehrte:

Vun em [Hebel] lehrn lett sik vaer en Plattdütschen awer wenig. Sprak un Volk sünd to verscheden, de Alemannen schint uns bi Hebel a Kinner, wi maegt se al ol’ Lüd vaerkam. De Schotte Robert Burns steiht uns trotz sin fremde Sprak neger.

So sind manche von Groths plattdeutschen Gedichten Nach- und Umdichtungen Burns’scher Verse, wird aus seinem

Bonnie wee thing, cannie wee thing,
Lovely wee thing, wert thou mine,
I wad wear thee in my bosom,
Lest my jewel it should tine.

eine

Ei, du Lütte, Söte, Witte
Ei, du Lütte, weerst du min
Wull di hegen, wull di plegen,
Schust min Schatz, min Demant sin!

und die Niederlage der Schotten in der Schlacht von Culloden

‘My Donald and his country fell
Upon Culloden Field’

zu

‘So full so menni brawe Jung,
Un du weerst mit derbi.

Von Groth ist es über Burns auch nicht mehr weit zu einem etwas versteckt liegenden Heider Pub, in dem es Guinness vom Fass gibt ...

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Sonnabend, 10. Oktober 1998

Schrecklich, wir müssen schon wieder abreisen. Wir packen unseren Kram und machen uns auf den Weg nach Dortmund. Fünfhundert Kilometer liegen vor uns. Von einer Tonbandkassette singt die Gruppe Moin nach einem Gedicht von Klaus Groth zur Melodie des in irischen Pubs so gerne gespielten Songs ‘The Lakes of Pontschartrain’:

Dar ligt in’t Noorn en Ländeken deep,
Un eensam liggt de Strand.
Dar blenkt de See, da blenkert de Scheep,
Dat is mien Vaderland.

Irland trifft Friesland – oder auch umgekehrt, wie immer man mag.

 
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Reisebericht Nordfriesland 1998, © 2008 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 28.10.2008