Herbsttage

– November 1999 –

 

Freitag, 29. Oktober 1999

Nur noch vier Tage Urlaub in diesem Jahr, doch da der Montag daheim ein Feiertag ist, wird eine Woche daraus. Gegen halb neun treffen wir in Tönning ein, sechseinhalb Stunden nach der Abfahrt in Hamm, wo man ‘sien Deern’ am frühen Nachmittag nach der Arbeit abgeholt hatte. Das halbe Ruhrgebiet war unterwegs nach Norden.

Frau Wulf hat unser ‘Cottage’, wie wir die Ferienwohnung nennen, schon vorgeheizt, doch sonderlich kalt ist es nicht und unsere Garderobe eher zu winterlich. Die Fahrräder vom Dach, die Taschen ins Zimmer und rasch über die Deichstraße zum Hafen. Vielleicht gibt es noch irgendwo eine warme Mahlzeit.

Die Hafenspelunke Nautilus liegt schief im Schlick des Torfhafens, als wir über die weiße Holzbrücke zur anderen Hafenseite gehen. Ob die Restaurants zu dieser Jahreszeit noch geöffnet sind? Godewind, der Goldene Anker und der Hafenblick sind hell erleuchtet (also keine Winterpause), doch für warme Küche ist es schon zu spät.

Nicht so jedoch im Roten Hahn, der alten Feuerwache in ‘der City’, wo der Koch auch nach halb zehn noch Krabben mit Rührei für mein Mädchen und für mich einen Matjesteller zustande bringt. Dazu ein dunkles Dübels und ein helleres Pils. Später stellen wir fest, dass es auch Guinness gegeben hätte. Nicht ärgern, morgen ist auch noch ein Tag!

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Sonnabend, 30. Oktober 1999

Mitten in der Nacht, sprich Viertel nach sieben, werde ich wach, weil mein Mädchen Kaffee kocht. Sie ist ausgeschlafen, also bin ich’s auch. Wir frühstücken: Brötchen des Typs Knackfrische vom Bäcker am Markt, Käse und Schinken aus Dortmund – was haben wir für einen Hunger!

Ein kurzer Bummel durch die Stadt und zum Hafen. Dort, wo es zur Eider hinausgeht, führt nun ein Fußweg zum Multimare-Wattforum. Im vergangenen Jahr war dieses im Vorfeld der Weltausstellung in Hannover entstandene Informations- und Bildungszentrums des Nationalparks Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer noch eine Baustelle. Ganzjährig geöffnet, liest man am Eingang, doch das Wetter ist zu schön für ein ‘Indoor Event’. Wir schwingen uns auf die Drahtesel.

Auf zum großen Wasser! Es ist stets das Gleiche: hin geht es wunderbar und die Räder rollen wie von selbst. Auf dem Deich von Vollerwiek ist die Bank vor dem verbarrikadierten DLRG-Häuschen zusammengebrochen. Wir bauen sie wieder auf, nehmen Platz und schauen aufs Meer, das bei Ebbe unendlich weit entfernt zu sein scheint. Hunger deutet sich an. Der Strandimbiss hinter dem Deich hat geschlossen und verspricht auf einem Pappschild, im Frühjahr wieder für uns da zu sein. Solange wollen wir nicht warten und überleben mit zwei Hustenbonbons.

Schankwirtschaft Andresen, © 1999 Juergen KullmannDer Wind frischt aus Richtung Tönning auf, entsprechend sportlich wird die Rückfahrt über den alten Vordeich durchs Katinger Watt, denn wir aus einer Laune heraus ‘Sommerdeich’ getauft haben. Sommerdeiche sind eigentlich die flachen Deiche auf den Halligen, die das Land im Sommer vor der Flut schützen, bei den Herbst- und Winterstürmen jedoch überspült werden. Doch das kümmert uns nicht. Eine Teepause in der Schankwirtschaft Andresen? Zwecklos, alles überfüllt. Der Geheimtipp ist schon lange keiner mehr und geparkte Luxuskarossen stehen selbst oben auf dem schmalen Asphaltstreifen. Vor zwei Jahren kehrten wir hier ein. Der Wirt, in Reiseführern als ‘echtes Original’ beschrieben, gab sich viel Mühe dem Rechnung zu tragen, soviel Mühe, dass es arg aufgesetzt wirkte. Doch malerisch ist das Anwesen allemal.

Also sitzen wir mit dem Rücken zur Schankwirtschaft auf einer Bank und schauen über das Katinger Watt. Hier sollte nach Fertigstellung des Eidersperrwerks eine Freizeitlandschaft mit Bade- und Wassersportanlagen, Wochenendhäusern, Appartements und Hotels entstehen, wie der frühere Leiter des Dithmarscher Landesmuseums Nis Nissen in seinem 1973 erschienenen Buch Wandern and der Westküste Schleswig-Holsteins schrieb. Rund 1.200 Hektar Mündungswatten wurden durch den Sperrwerksbau trockengelegt, doch schließlich siegten die Stimmen, die dem Naturschutz Vorrang einräumten, nicht zuletzt als Ausgleich für den Landschaftsverbrauch an anderer Stelle. 60 Brutvogelarten, darunter bedrohte wie Kampfläufer, Drosselrohrsänger, Alpenstrandläufer, Bartmeise und große Rohrdommel, haben in den letzten 30 Jahren hier eine Heimat gefunden, erfährt man ein paar hundert Meter weiter im Naturzentrum Katinger Watt oder Lina-Hähnle-Haus, doch identifizieren könnte ich wohl kaum einen der Vögel.

Weiter geht es, und dann sind wir wieder auf dem Deich bei Tönning, schräg hinter uns die Badeanstalt. Ein Fahrgastschiff kommt von den Seehundbänken die Eider hoch und sucht die Hafeneinfahrt jenseits unseres Blickfelds hinter dem Sterling-Werk, das den Deich als Betriebsgelände okkupiert hat und Spaziergängern und Radfahrern den direkten Weg zum Hafen verwehrt. Der Himmel hat sich zugezogen und taucht die Landschaft in ein Grau, warm abgetönt durch die im Dunst verborgene Sonne.

Also runter vom Deich und im großen Bogen durch die Stadt. Am Abend gibt es im Roten Hahn das langersehnte Guinness.

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Sonntag, 31. Oktober 1999

Wir besuchen das Multimar Wattforum, das wir gestern nur von außen bestaunt hatten. In Irland nennt man dergleichen ‘Ocean’s A-Live’, zumindest bei uns auf der Renvyle-Halbinsel. Zehn DM Eintritt pro Person, was IR£ 4,00 entspricht, also verglichen mit den Preisen auf der grünen Insel ganz moderat.

Gleich hinter dem Eingang der Shop und ein Selbstbedienungsrestaurant, das ab 18 Uhr auf Bedienung umstellt. Bis hierher gelangt man ohne Eintritt zu zahlen. Ein Stockwerk tiefer im Glaspalast das eigentliche Besucherzentrum. Das Gebäude liegt in einer Senke hinter dem Eiderdeich, und bei ‘richtigem Hochwasser’, so mutmaßen wir, hat man nicht nur die Aquarien im Gebäude, sondern draußen hinter den Glasscheiben noch ein viel größeres vor Augen.

Was gibt es zu sehen? Meerwasseraquarien mit kleinen und großen Fischen nebst anderem Seegetier. Wer mag, kann in einem von ihnen mit Muskelkraft Sturm erzeugen. Beliebt bei jugendlichen Nachwuchsfilmern die steuerbare Unterwasserkamera, mit der sie den Aquarienbewohnern auf den Leib rücken können um sie aus der Nähe auf einem Fernsehschirm zu betrachten. An einer der vielen ‘Aktionsstationen’ können die Einflüsse von Ebbe und Flut simuliert werden, und in einem historischen Hörbericht schildern Halligbewohner eine verheerende Sturmflut:

Springflut, © 2004 H. Vogt-Kullmann
Hildegard Vogt-Kullmann: Springflut

Aktives Entdecken ist das Motto, und die nicht ganz so Aktiven können sich in eine Multimedia-Diashow mit 10 Projektoren begeben. Demnächst soll ein Walhaus gebaut werden.

*  *  *

Am Nachmittag fahren wir über Garding, das an diesem Sonntagnachmittag wie ausgestorben wirkt, nach St. Peter-Ording-Bad. Wir verlassen die Häuserzeile mit den Läden und Restaurants und wandern auf der einen Kilometer langen Seebrücke über Salzwiesen und Priele zu den Pfahlbauten hinaus. Der vom Meer kommende Wind frischt auf. Noch immer sind viele Menschen auf der größten Sandbank der friesischen Küste, weit hinten an der Wasserkante weiß und hoch die Gischt. Die Flut kommt. Ein Foto noch in Richtung untergehende Sonne, davor silhouettenhafte Gestalten, ein zweites von der Liebsten auf dem Geländer des Stegs sitzend, hinter ihr das graue Meer. Dann wandern wir über die Seebrücke zurück, und wo auf dem Hinweg noch Salzwiesen und Sand unter uns waren, sprudelt nun Wasser:

Floot stiggt höger, Storm de brullt
Water ower Dieken rullt
Is kien Boot dar, numms to sehn,
Moder, höörst Du mi nich schreen? ...

Doch so schlimm wie in jenem Lied von Helmut Debus ist es nicht, und wir gelangen trockenen Fußes an Land.

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Montag, 1. November 1999

In Nordrhein-Westfalen ist heute arbeitsfrei, doch im protestantischen Norden geht man seinen Alltagstätigkeiten nach. Wir fahren nach Husum. Inzwischen wissen wir, wo man kostenfrei parken kann: jenseits der Bahn an der Straße zum Hafen.

Dragseth Duo singt StormVom Hafen kommend schlendern wir durch die Wasserreihe, und als wir das Stormhaus passieren, kommt die Sonne heraus. Vor rund 10 Jahren hat das Husumer Dragseth Duo eine CD mit 12 vertonten Gedichten seines früheren Bewohners aufgenommen. Ob es sie wohl noch gibt, man sie hier gar kaufen kann? ‘Montags geschlossen’, doch das Licht in der Gasse ist einmalig und ich greife zur Kamera. Da kommt ein Mann aus der Tür, der Storm ganz und gar nicht ähnlich sieht. Er äußert ein paar Nettigkeiten über das Wetter, geht wieder, zögert, dreht sich um und kommt zurück. Irgendwie kämen wir ihm bekannt vor, ob wir uns schon einmal gesehen hätten? Nun, vor gut einem Jahr schlenderten wir hier schon einmal entlang, und vor etwa zweien waren wir im Haus. Doch das kann’s wohl nicht gewesen sein, sind wir uns einig, und lassen das Rätsel ungelöst.

Der Nachmittag steht mehr oder weniger im Zeichen des Kaufs einer warmen Winterjacke für die Liebste – zu einem Preis, der in etwa drei Wochen Leihwagen in Irland entspricht. Etwas preiswerter die sechs großen blauen Teepötte mit friesischem Zwiebelmuster, die für DM 7,95 das Stück auf dem Weg zum Auto noch in den Einkaufsbeutel wandern. Kein Wunder, dass man nach all diesen Anstrengungen müde ist. Gegen neun Uhr begibt sich mein Mädchen zu Bett.

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Dienstag, 2. November 1999

Auf den Drahteseln zum Eidersperrwerk, doch nicht auf dem üblichen Weg, sondern südlich der Eider durchs Dithmarscher Land. Dazu müssen wir zunächst aus Tönning heraus, auf die B5 und über die große Brücke, deren Mittelteil sich hochklappen lässt. Beobachtet haben wir das noch nie, vielleicht ist sie festgerostet.

Gleich hinter der Brücke verlassen wir die Bundsstraße und fahren auf einem asphaltierten Weg nach Südwesten, die einzigen Menschen auf dieser Welt, Felder zur Linken und die Eider zur Rechten, die sich weit zum Meer hin öffnet, fast schon Meer zu sein scheint, auch wenn sie am Ende vom ihm ‘abgesperrt’ ist. Seltsame Gestalten baumeln an Stangen. Soldaten des dänischen Königs, von Dithmarscher Bauern aufgehangen? Vogelscheuchen, meint mein Mädchen, was für die Bauern im Jahr 1500 jedoch keinen großen Unterschied gemacht hätte.

Der Wirtschaftsweg schwenkt von der Eider ab ins Land des Kohls. Glaubt man den Nordfriesen, dann reden die Dithmarscher sogar Kohl. An einer Weggabelung steht ein alter Karren, darauf riesige Köpfe gestapelt, zu groß für unseren Zwei-Personen-Haushalt. Viele weiße und einige rote. Rot geht wohl nicht so gut, was sich auch in der Politik ausdrückt. An der Deichsel angeschraubt eine Blechkiste mit einem Schlitz: Pro entnommenem Kopf bitte eine DM einwerfen.

Wir fahren weiter, und der Weg mündet in eine Landstraße. Nun gibt es keine Selbstbedienung mehr, dafür finden wir alle paar hundert Meter bäuerliche Anwesen mit K&K-Märkten, offene Schuppen mit einer Angebotspalette von Kartoffeln bis Kohl.

Endlich haben wir das Sperrwerk erreicht, bewundern die gewaltige Mechanik und Kunst der Ingenieure, die so etwas zu Stande bringt, und überqueren die Eidermündung. Der Imbiss am Parkplatz auf der anderen Seite hat bis zum Frühjahr geschlossen. So lange mögen wir nicht warten und radeln – nun wieder in Nordfriesland – auf dem Deich nach Norden. Zwei Schimmelreiter auf Drahteseln, vielleicht die letzten des ausklingenden 20sten Jahrhunderts. Am Deichbogen bei Kating verabschieden wir uns vom Meer und fahren durchs Katinger Watt nach Tönning zurück.

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Mittwoch, 3. November 1999

An einem spätsommerlichen Herbsttag des Jahres 1999 machen sich zwei Möchtegern-Friesen auf Drahteseln über Deiche und Felder südlich der Eider auf den Weg nach Friedrichstadt. Da Tönning, der Startpunkt der Reise, auf der Nordseite des Flusses liegt, müssen sie zunächst über die ‘neue Brücke’, hinter der es links zum Wasser hinuntergeht.

Mit dieser ‘brandneuen Brücke’, schrieb Nis R. Nissen 1973 in Parken und Wandern an der Westküste Schleswig-Holsteins, lebt eine fast vergessene Verkehrsverbindung wieder auf, von der nur noch das ehemalige Hotel bei der alten Fährstelle auf Dithmarscher Seite geblieben ist. Und so heißt die schmale Straße, auf der wir gerade anhalten, ‘Zur Fähre’. Dies war jahrzehntelang die Endstation der Eisenbahnstrecke Neumünster–Heide–Tönninger Fähre, die 1877 noch vor der Marschenbahn das Dithmarscher Land erreichte. Kaum vorstellbar, dass wir vor einem Eisenbahnhotel stehen. Wenn ein starker Wind blies, im Winter das Eis die Eider herunterkam oder die Ebbe zu wenig Wasser im Fluss ließ, waren längere Wartezeiten angesagt und die Reisenden konnten hier nächtigen. Wir schieben die Räder auf den Deich, der trotz seiner Grasnarbe als fahrradtauglich ausgewiesen ist. Arg holprig geht es voran.

Es wird warm, so dass ich mir die Jacke ausziehen muss. Kein Mensch weit und breit. Radhoppelnde Touristen müssen eine seltene Spezies auf dem Deich sein, erstaunt starren die jungen Schafe von den Eiderwiesen zu uns herauf. “Was sind das denn für Wesen?” fragt ein Lamm seine Mutter. “Menschen”, antwortet diese, “aber komm ihnen nicht zu nahe, solange du kein zäher, alter Hammel bist.”

Plötzlich endet der Pfad auf der Deichkrone im Nirgendwo. Da sich das Gatter zur Straße nicht öffnen lässt, hieven wir die Räder hinüber. Die Reifen sehen aus, als seien wir durch die Hinterlassenschaft von Kühen gefahren. Mit Grasbüscheln versuchen wir sie vom Matsch zu befreien, ehe es über zumeist schmale Straßen und Feldwege weitergeht. Gegen Mittag sind wir in Friedrichstadt.

*  *  *

Friedrichstadt, ©1999 Juergen KullmannDer Marktplatz von Friedrichstadt liegt in der Sonne, so dass die Häuserreihe mit der alten Apotheke (wieder einmal) fotografiert werden will, derweil mein Mädchen im Imbiss um die Ecke ein Bismarck- und ein Backfischbrötchen ersteht. Es dauert etwas länger, denn der Backfisch muss erst noch gebacken werden. Die Saison sei gelaufen, erzählt der Inhaber, er werde den Laden gleich schließen. Zu wenig Touristen, da gehe er lieber auf der Treene angeln.

Karte Friedrichstadt ZentrumWährend er seine Schotten dichtmacht, verspeisen wir auf einer Bank unsere Fischbrötchen. Eine Gruppe Engländer schlendert vorbei, also doch nicht ganz touristenfrei, die Stadt. Wir folgen ihnen zur Treene hinunter. Grachtenfahrten gibt es um diese Jahreszeit nicht mehr, so radeln wir im Karree um die ‘City’. Später gelingt es uns einen Platz im vielgerühmte Hollandstübchen am Markt zu finden. Im vergangenen Jahr war es so voll, dass wir flüchteten. Heute aber ist es urgemütlich, und wir gönnen uns ein Kännchen Tee und zwei Stück Kuchen. Auch die Abendkarte sieht interessant aus, vielleicht sollte man mit großem Hunger wiederkommen.

*  *  *

Wir sind auf dem Heimweg, stoppen kurz auf der großen Klappbrücke hinter der von den Holländern im 17. Jahrhundert mitgebrachten Stadt, bis 1973 war sie die letzte Eiderbrücke vor der Nordsee. Die Sonne, die sich in der letzten halben Stunde rar gemacht hatte, kommt wieder heraus und spiegelt sich im Wasser. Bei St. Annen verlassen wir die Hauptstraße und es geht auf schmalen Wirtschaftswegen gen Westen. Weit das Land, an irische Torfmoore erinnernd, und noch weiter der Himmel, der am Horizont die Erde zu berühren scheint. Ist sie doch eine Scheibe? Ein sachtes Dröhnen. Eine dreiviertel Meile vor uns fährt der Zug nach Heide durch Geest und Moor, zwei Dieselloks mit sechs Wagen. Man hört das Kling-klang-kling der Schranke von Lunden, die wir eine Viertelstunde später passieren.

Bei Wollersum stoßen wir wieder auf die Eider, Badestelle Wollersum, verkündet ein Holzschild. Silhouettenhaft liegt der Steg vor der untergehenden Sonne, darauf mein Mädchen. Dann ein Lärmen am Himmel, in Einserformation ziehen Wildenten über den Fluss nach Süden. Wir aber ziehen weiter nach Tönning, und es ist bereits dunkel, als wir die Räder bei Frau Wulf im Schuppen abstellen.

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Donnerstag, 4. November 1999

Ein weiterer schöner Novembertag, zunächst noch etwas grau, doch ‘warm angehaucht’ als Indiz dafür, dass die Sonne dahinter am werkeln ist. Und es dauert nicht lange, bis sie sich durchsetzt.

Zum wiederholten Mal haben wir uns die Badestelle Vollerwiek zum Ziel genommen, noch aber sind wir auf dem Deich bei Olversum. Dort, wo der Weg ihn verlässt, halten wir an. Der Wind wird stärker. Weiterfahren? Gegenwind auf dem Heimweg ist alles andere als vergnüglich, doch wie es scheint, kommt der Wind schräg von vorne, was retour Rückenwind verspricht.

Also strampeln wir uns weiter ab, diesmal nicht über den Mitteldeich via Andresens Schankwirtschaft sondern durchs Katinger Vorland. Irgendwo links liegt das Eiderdelta, wenngleich momentan nicht zu sehen, da wir durch einen ‘Grüne Insel’ genannten Wald fahren. Hinter dem Wald, die Abschnürung der Eidermündung ist schon in Sicht, taucht rechts ein See auf. Wir schieben die Räder zum Wasser hinunter und setzen uns auf die Ufersteine. Von Minute zu Minute wechselt das Licht; das Grau geht in ein herbstlichen Leuchten über, dann trübt sich alles wieder. Keine Chance, das mit der Kamera festzuhalten. Die Surfschule und der Bootsverleih gegenüber liegen bereits im Winterschlaf, kein Mensch außer uns weit und breit.

Wir brechen auf und stoßen beim Sperrwerk auf den asphaltierten Deich. Schön ist er nicht, aber angenehm zu befahren und man hat eine gute Sicht bis weit ins Land und aufs Meer. Bei Kating macht er einen großen Bogen nach Westen. Der Wind, der bis jetzt von der Seite kam, kommt nun von vorn und nimmt den Atem. Wir trotzen ihm bis zur Bank hinter dem ersten Schafsgatter. Hier saßen wir schon oft und ließen den Blick über das Meer oder, wie jetzt bei Ebbe, über das Watt schweifen. Wollen wir weiter? Zu böig, lautet der Beschluss, und so fahren wir durchs Katinger Watt über den Mitteldeich nach Tönning zurück. Mit dem Wind im Rücken macht es richtig Spaß!

*  *  *

Ein früher Novembernachmittag in Nordfriesland, wir sitzen vor Guszinkis Fischimbiss am Hafen. Die Sonne scheint, ein Schillerlocken-Brötchen für mich und eines mit Krabben für die Liebste. Auf der Holzschiffswerft gegenüber ging es zu Tönnings Blütezeit vor der Eröffnung des Nord-Ostsee-Kanals wohl geschäftiger zu. Damals waren die Eider und der im späten 18. Jahrhundert fertiggestellte Eider-Ostsee-Kanal die einzige Schifffahrtsverbindung zwischen den Meeren, und der mächtige Kasten des 1783 errichteten Packhauses gab, wie Nis Nissen vor 35 Jahren schrieb, dem überseeischen Weizen ein trockenes Asyl. Heute werden auf der Werft alte Holzschiffe restauriert und Nachbildungen historischer Eiderkähne gebaut. Die Plastiksegler dürfen die Japaner bauen.

Die Brötchen sind gegessen und ich hole für jeden einen Pharisäer. Bislang habe sie Anfang November stets dichtgemacht und erst im Frühjahr wieder geöffnet, erzählt Frau Guszinki (wenn sie’s denn ist), doch in diesem Jahr werde sie versuchen, den Betrieb über den Winter weiterzuführen. Sie hoffe auf die Besucher des neuen Multimar-Wattforums. Prima Idee, denn anders als die der Fischereigenossenschaft am Packhaus gegenüber sind ihre gepulten Krabben frei von Benzoesäure.

Dann brechen wir auf, machen, als es dunkel wird, noch einen Spaziergang durch Tönning. Die Stimmung ist bereits adventlich, eigentlich fehlt nur noch der Weihnachtsmarkt. Wir schlendern ein Stück die Straße links der Kirche hoch, wo mien Deern einen Handarbeitsladen findet und eine weihnachtliche Stickdecke* ersteht.

Und am Abend? Das Restaurant Godewind macht Betriebsferien, und so stranden wir wieder im Roten Hahn.

* Nachtrag vom Januar 2006: Noch ist sie nicht fertiggestellt, doch das Jahrtausend ist ja noch jung.

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Freitag, 5. November 1999

Kälter ist es geworden und windiger. Wir unternehmen, wenngleich nicht als solche geplant, eine Einkaufstour nach St. Peter Dorf. Ein Paar Schuhe für den Tagebuchschreiber, womit sich sein aktueller Bestand auf vier Paare erhöht. Drei, widerspricht mein Mädchen, denn die an seinen Füßen müssten ausrangiert werden. Die Schuhe protestieren, sie seien doch gerade erst eingelaufen. Meine Füße stimmen dem Protest zu und sie ist überstimmt.

Der nächste Einkauf – heute bin ich an der Reihe – ist ein friesischer Troyer: dicht, warm und seewasserfest gefärbt, verspricht die Verkäuferin. Muss ich jetzt ins Wasser gehen, um diese Eigenschaft zu nutzen? Muss ich nicht, werde ich beruhigt. Troyer sind, so wird man fachkundig informiert, ursprünglich robuste Arbeitspullover, man kann sie aber auch tragen – ich habe beim Begriff Arbeitspullover wohl etwas misstrauisch aus der Wäsche geguckt –, wenn man nicht zu arbeiten gedenkt. Das erleichtert und ich stimme dem Erwerb zu.

Nach solch anstrengenden Unternehmungen speisen wir in einer urigen Kneipe im Dorfkern, Kohlrouladen für die Liebste, Krabben mit Bratkartoffeln und Salat für mich. Dazu zwei Riesenbiere.

Leuchtturm Westerhever Nov. 1999, © Juergen KullmannZwei Stunden später wandern wir über den Westerhever Sand. Die Sonne hat sich davongeschlichen, doch auch vor einem grauen Himmel, der in ein graues Meer übergeht, macht sich der Leuchtturm gut – wenngleich auf Fotos nicht so leicht festzuhalten. Da fehlt das Spüren des Windes auf der Haut, der Salzgeschmack auf der Zunge, das Fühlen und Hören. Ich versuche es dennoch. Dann verlassen wir den Leuchtturm und wir wandern langsam zurück. Die Schäferei hinter dem Deich schenkt Glühwein aus, ein Pharisäer wäre uns lieber gewesen.

Und das war’s dann auch schon, morgen geht der Urlaub zu Ende.

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Reisebericht Nordfriesland 1999, © 2008 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 29.10.2008