Hermann & Hauke

– Oktober 2000 –

 

Donnerstag, 5. Oktober 2000

Herr W. erkennt uns wieder. Wir ihn nicht, können uns nicht erinnern, ihn schon einmal gesehen zu haben. Denn wie schon in der Regierung des nördlichsten Bundesstaates, regelt auch hier die Frau das Wesentliche und kümmert sich um die Vermietung der Ferienwohnung. Ob wir das silberne Fahrrad wieder dabeihätten? Das fast ein Vierteljahrhundert alte Kettler-Rad muss einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben. Klar doch, und das Auto mit dem verwitterten roten Lack. Doch das denkt er sich nur, meint mein Mädchen.

Wie meist bei unserer Ankunft ist Ebbe und die Nautilus liegt schräg im Hafenschlick. Davor ein Schild:

Vorsicht, angeschwemmte Munition!

Wo die wohl herkommt? Oder ist das Friesisch und heißt auf Deutsch Touristenpack auf dieser Spelunke unverwünscht? Umso willkommener sind wir in Guszinkis Fischimbiss. 1mal Bismarck- und 1mal Krabbenbrötchen bitte. Und zwei Flaschen Flens.

Neues aus Tönning. Die vor zwei Jahr frisch gepflasterte Neustraße ist abgesackt und für die Durchfahrt gesperrt. Da die im Ruhrgebiet so beliebte Ausrede ‘Bergsenkung’ hier nicht zieht, wurde die Baufirma dazu verdonnert, sie auf eigene Kosten wieder anzuheben. Doch das Wichtigste: Man kann neuerdings vom Hafen über den Eiderdeich bis nach Olversum laufen bzw. radeln. Die Firma Sterling, die weder englisches Geld noch Silber produziert, sondern profane Pumpen herstellt, hat eine Passage durch ihr Ufergrundstück freigegeben. So sind wir zu Fuß in 10 Minuten in unserer ‘Laube’ auf dem Eiderdamm, die bis dato erst nach 20-minütiger Radfahrt um den halben Ort erreichbar war.

*  *  *

Es wird Abend, und im Roten Hahn ist kein mehr Platz frei. Nach dem fünften Vorbeischlendern immer noch nicht. Vielleicht sollten wir demnächst wieder im November kommen. So landen wir erstmals im ‘Landschaftlichen Haus’, dessen Name uns bislang nicht ganz geheuer war. Dieser hat nichts mit Volkstümelei zu tun, erfahren wir später, sondern es handelt sich um den einstigen Tagungsort der politischen Vertretung der Landschaft Eiderstedt. Hier tagte die Eiderstedter Landesversammlung, wurde Gericht gehalten und im Jahr 1843 letztmals ein Todesurteil gesprochen. Im Keller befinden sich noch Gefängniszellen, doch wir ziehen die Gaststube vor. Ich bestelle etwas mit Lamm, mein Mädchen etwas mit Krabben, und beides ist lecker. Dennoch schaut mien Leevste ganz fasziniert auf die Riesenschalen mit Muscheln, die immer wieder an uns vorbeigetragen werden.

Neben dem Tresen sitzen Hermann und Hauke beim Trinken: Hermann zuständig für das Reden, Hauke fürs Zuhören. Wer in Oxford Deutsch gelernt hat, hat keine Chance etwas verstehen, Bayern erst recht nicht. Hermann ist nicht wählerisch bei seinen Gesprächspartnern und redet mit jedem: mit vorbeikommenden Gästen, ob sie’s wollen oder nicht, mit der Bedienung, die möglicherweise die Wirtin ist und Motorrad fährt (wenngleich nicht hier im Lokal, wie sie betont), und mit dem Koch, der möglicherweise der Wirt ist und seine standhafte Weigerung erläutert, Fritten auf die Speisekarte zu setzen. Hermann argumentiert dagegen, Hauke hört zu, nickt und trinkt. Und am Ende zahlt Hermann die Zeche in Höhe von DM 36,80.

Und wir nennen diesen Reisebericht in Ermangelung eines besseren Einfalls ‘Hermann & Hauke’, nach zwei Originalen, die für Tönning stehen, auch wenn sie nun aus unserem Gesichtsfeld schwinden.

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Freitag, 6. Oktober 2000

Samstagnacht. Bevor ich nun zu sehr in Rückstand mit dem Schreiben komme, hier das Wesentliche vom gestrigen Freitag im Telegrammstil.

(1) Der sportliche Teil

An der Eidermündung, © 2010 Juergen KullmannNach dem Frühstück über den Eiderdeich nach Olversum geradelt. Volker Rühe scheint nach seinem vergeblichen Anlauf, Häuptling des Landes zu werden, sein Ferienhaus hinter dem Deich verkauft zu haben, die Wachhütte ist jedenfalls weg. Nebel legt sich über die Eidermündung und Dithmarschen verschwindet im Dunst. ++ Weiter Richtung Eidersperrwerk. ++ Auf halbem Weg Stopp und Diskussion, ob man nicht ob drohender schwarzer Wolken und dem, was sich daraus ergießen könnte, umkehren sollte. ++ Man kehrt um. ++ Nach 100 Metern Stopp und Diskussion, ob man den Umkehrbeschluss nicht annullieren sollte. ++ Man annulliert und kehrt in Gegenrichtung um. ++ Am Sperrwerk angekommen bei schräg von der Seite einfallendem Wind auf dem Deich bis Vollerwiek gekreuzt. ++ Kleine Pause auf der Bank bei der DLRG-Station. ++ Vom Rückenwind über den ‘Sommerdeich’ nach Hause treiben lassen.

(2) Der kulturelle Teil

Den Abend verbringen wir im Filmtheater von St. Peter Ording Bad, ein Kino mit einem kleinen Tischchen vor jedem Sitz und Bedienung auch während der Vorstellung. Wir sehen die Verfilmung von Frank McCourts Die Asche meiner Mutter, und der Regen, der für heute angekündigt war und nicht kam, rauscht zweieinhalb Stunden lang über die arme kleine Stadt Limerick hernieder. Und wäre der Film nicht nach 145 Minuten zu Ende gewesen, so regnete es dort noch heute.

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Sonnabend, 7. Oktober 2000

Pustekuchen, nichts da mit dem angekündigten ‘großen Kunst- & Handwerker-Markt’ in der Tönninger Stadt- und Sporthalle, sie zeigt sich öd und leer. Also holen wir die Räder aus dem Stall und fahren nach Tetenbüll, wo es einen historischen Kaufmannsladen zu besichtigen gibt, eine Landhökerei, wie man dereinst zu sagen pflegte.

Die letzte aktive Landhökerin, die ihren Essig, Rum und Kümmel (flüssig) noch aus Fässchen abfüllte, starb 1955. Ihre Erben weigerten sich 30 Jahre lang hartnäckig, auch nur einen Nagel von der historischen Ladeneinrichtung zu veräußern. Heute wird er von einem Förderverein als Museum geführt. Der Eintritt ist frei, doch es gibt das eine oder andere zu kaufen, Steingut-Krüge und Töpfe nach Großmutterart und sonstige Dekoartikel.

Aquarell von H. Hoppe (1999), © Juergen KullmannMein Mädchen hat auf der Karte einen Radweg über Feld und Flur jenseits der Bundesstraße gefunden, nur einmal kreuzen ihn die Schienen des roten Friesenblitzes. Entlang der durch die Felder führenden Bahnlinie von St. Peter Ording nach Husum stehen noch die alten Holzmasten mit Leitungen auf Porzellan-Isolatoren, eine so vergessene Strecke, dass die deutsche Bahn vergaß sie stillzulegen.

Die Kirche von Tetenbüll steht wie die meisten Dorfkirchen auf einer Warft, die Häuser im Kreis um sie herum. Ursprünglich hatten die Dörfer kein Recht, Läden einzurichten. Das war den Städten vorbehalten, auf dem Land war Selbstversorgung angesagt. Später kamen die ersten Landhökereien auf, mit einem beschränkten Sortiment, das den Stadthändlern abgekauft werden musste. Luxuswaren wie Zucker durften diese Dorfgeschäfte auch weiterhin nicht anbieten, bis dann im Jahr 1865 die Gewerbefreiheit eingeführt wurde. Wir lassen uns heute drei Ansichtskarten verhökern.

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Sonntag, 8. Oktober 2000

Mit dem Adler Express zur Hallig Hooge. Doch zunächst einmal müssen wir nach Nordstrand, wo das fast funkelnagelneue Fahrgastschiff der Insel- und Halligreederei Paulsen ablegt. Die Reederei feiert in diesem Jahr ein Jubiläum: 50 Jahre Adler-Schiffe, steht auf dem Bordjournal. 350 Personen soll das Schiff fassen, doch ob es bei dieser Fahrt mehr als 35 sind, ist zu bezweifeln.

Adler-ExpressMit ihren zwei Wasserstrahlmotoren macht die Adler Express die Strecke bis Hooge in einer Stunde, um anschließend weiter nach Amrum zu fahren. Wir stehen an der hinteren Reling und sehen zwei gewaltige Fontänen aus dem Heck schießen, dem Triebwerken eines Düsenjets gleich. Man fragt sich, wie der Skipper bei diesem Tempo so nahe an den Sandbänken navigieren kann. Wie macht er das erst im Dunkeln? Nur einmal, als wir eine Seehundbank passieren, drosselt er das Tempo. Die Kameraverschlüsse klicken.

Hallig Hooge ist ein knapp sechs Quadratkilometer umfassendes, flaches Eiland mit einem Sommerdeich genannten Tellerrand und einigen aufgeschütteten Hügeln, die man Warften nennt und auf denen die Häuser der Halligbewohner stehen. Dann und wann, so wird im Sturmflutkino gezeigt, läuft das Wasser von außen über den Tellerrand und der Teller voll. Landunter nennt man das, nur die Warften schauen noch dann aus dem Wasser. Wenn dann der Wasserspiegel der Nordsee schon längst gefallen ist, dauert es noch eine ganze Weile, bis das feuchte Nass durch die Schleusen am Tellerrand wieder abgelaufen ist. Da das Leben unter diesen Bedingungen soviel Spaß macht, leben hier seit Jahrhunderten Menschen, etwa mehr als 100 sind es zur Zeit auf Hooge.

Wie die Halligen entstanden sind? Der auf der Hanswarft lebende Postschiffer Hans von Holdt hat jahrzehntelang darüber nachgedacht und kommt zu dem Schluss, dass die allgemeine Vorstellung darüber antiquiert ist:

“Einleitend möchte ich grundsätzlich etwas feststellen. Mit der allgemeinen Meinung über den Aufbau und die Entstehung der heutigen Halligen kann ich mich nicht einverstanden erklären. Selbst renommierte Nordfrieslandkenner wie Henry Koehn und Dr. Wohlenberg gehen davon aus, daß die heutigen Halligen auf den Rumpfflächen der untergegangenen Ländereien nach 1362 entstanden sind. Wenn man, wie ich, tagtäglich auf Halligboden steht, denkt man schon mehr darüber nach. Mir erscheint es allerhöchste Zeit, einmal diese antiquierte Ansicht zu überdenken und sich lieber von logischen Gesichtspunkten leiten zu lassen, als daß man eine einmal aufgestellte Theorie blindlings übernimmt.

BuchcoverIch meine, bestärkt durch meine jahrelangen Überlegungen, daß die Entstehung der heutigen Halligen wie nachfolgend zustandekam. In Plinius dem Älteren, einem Römer, der vor etwa 2000 Jahren die Küste bereiste, habe ich einen wichtigen Augenzeugen. Er schreibt u.a.: ‘Dort wohnt dies arme Volk auf Hügeln oder künstlich nach Maßgabe der höchsten Fluten aufgeworfenen Anhöhen, auf welchen es Hütten errichtet, Schiffen ähnlich, wenn die Flut ringsum alles mit Wasser bedeckt.’ [...] Wir sehen also, daß die Nordfriesischen Halligen im großen und ganzen auch schon vor mehr als 2000 Jahren so oder so ähnlich ausgesehen haben wie heute, abgesehen selbstverständlich von den neuzeitlichen Uferbefestigungen, die heute die Halligen schützen. Die eigentliche Geburtsstunde der Halligen ist aber noch viel, viel früher gewesen.

Man muß sich wundern, daß Theorien aufgestellt und verbreitet werden, als ob die Halligen erst vor einigen hundert Jahren entstanden sind. Ich nehme an, daß die Entstehung des Halligkerns mit dem gewaltigen Naturereignis in Zusammenhang zu bringen ist, das auch den englischen Kanal entstehen ließ – und das war vor mindestens 5000 Jahren. So alt sind unseren Halligen im Kern auf jeden Fall. [...]”

Soweit der damals 86-jährige Postschiffer Hans Bandik von Holdt in der Einleitung zu seinem Buch Auf den Spuren des alten Hooge*, in dem ich nun in der Teestube der Hanswarft blättere. Einem solchen Experten vermag man nicht zu widersprechen. 1980 hatte er auf der Hanswarft ein eigenes Museum eingerichtet, in dem ich das Buch vor einer Stunde erwarb.

Zuvor hatten wir der Halligkirche aus dem 17. Jahrhundert einen Besuch abgestattet, die, wen wundert’s, mit dem Pastorat auf der Kirchwarft steht. Die Backsteine, das Gestühl, das Taufbecken und vermutlich auch die Kanzel sollen aus einer Kirche der bei der Sturmflut von 1634 zerrissenen Insel Alt-Nordstrand stammen.

Auf dem Weg hierher dann noch ein Blick ins Fenster des 1776 vom Kapitän und Schiffseigner Tade Hans Bandix errichteten Traufenhauses mit dem ‘Königspesel’. Ein Pesel, das ist die beste Stube eines Hallighauses. In diesem mit holländischen Fliesen und eindrucksvollen Decken- und Türmalereien ausgestatteten Zimmer hat einst der dänische König Friedrich VI übernachtet, als er 1825 auf einer Inspektionsfahrt von einer Sturmflut überrascht wurde. Nach einem Brand vor fünf Jahren wurde es originalgetreu restauriert. Sonntags keine Besichtigung, lesen wir.

Doch ehe wir auch noch von einer Sturmflut überrascht werden, machen wir uns zum Anleger auf. Der Adler-Express nach Nordstrand naht.

* Hans von Holdt: Auf den Spuren des alten Hooge. 2. vervollst. Auflage 1991, Beklumer Druckerei Manfred Siegel KG

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Montag, 9. Oktober 2000

Der Himmel ist grau und spiegelblank das Meer, als wir unsere Räder bei Kating auf den Deich schieben. Möwen sitzen auf diesem Spiegel, wir nur auf einer Strohmatte, die wir auf der Stufe einer glitschigen Steintreppe ausgebreitet haben.

Knurrt da nicht ein Magen? Wir fahren ein Stück ins Inland und kehren in einem Dorfgasthof ein, in den Gasthof von Welt, denn die Gemeinde Welt – oder sagt man Weltgemeinde? – hat nur einen. Lamm mit Wirsing, dazu zwei Pils. Mein ‘kleines Mädchen’ meint, der kleinere Seniorenteller würde ihr reichen. Kein Problem, sagt die Wirtin, eine Altersbeschränkung nach unten gibt es nicht. Der Seniorenteller kommt – und nachdem sie ihren Teller leergeputzt hat, bedient sich mien Deern von meinem.

*  *  *

Nach dem Mittagessen sitzen wir vor der DLRG-Station auf dem Deich von Vollerwiek. Ein blauer Streifen zeigt sich am Horizont. Das Blau naht nur langsam, denn noch ist es fast windstill. Ein Glitzern bewegt sich über das feucht Watt. In dieses Glitzern hinein wandern einige Frauen und Männer in Watthosen, in den Händen seltsame hölzerne Gerätschaften, über deren Anwendung wir nur spekulieren können, bis sie zu kaum noch erkennbaren Silhouetten geworden sind.

Ein kleiner Junge lässt einen Piratendrachen aufsteigen, einen mit langem, roten Schwanz und von der Art, wie ihn schon unsere Großväter gebastelt haben, nicht so ein neumodisches Lenk-Ungetüm. Den fehlenden Wind gleicht er durch Eigenbewegung aus, stapft mit stetem Schritt nach Osten, derweil der Drachen zehn Meter über und hinter ihm Kurs hält.

Es frischt auf. Der Himmel beginnt sich, wenngleich sehr sacht, zu röten. Es wird Zeit, dass wir Kurs nach Tönning aufnehmen.

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Dienstag, 10. Oktober 2000

BStormhaus Husum, © 1997 Juergen Kullmannei Storms in der Wasserreihe 31 findet gerade eine Führung statt und wir mogeln uns dazu. Unser Führer und Stormexperte ist ein liebenswürdiger älterer Mann mit rot-weißem Halstuch, und ich frage mich, ob es nicht derselbe ist, der uns hier letztes Jahr aus der Tür kommend angesprochen hatte und meinte, er kenne uns von irgendwoher.*

Nichts ist in diesem Haus, in dem der Dichter und Landvogt von 1866 bis 1880 wohnte, mit Kordeln abgesperrt. Schilder ‘Berühren verboten’ sucht man vergeblich und ältere Leute, so werden wir informiert, dürfen sich auch schon einmal auf einen der Stühle setzen, auf denen schon Storm gesessen hat. Wir fühlen uns nicht angesprochen.

Im ersten Stock kommen wir in die Hauptwohnstube, die wieder original möbliert ist. Hier stehen das alte Tafelklavier – Storm war auch ein guter Sänger – und der Sessel, aus dem heraus er die neugeschriebenen Kapitel der Familie vorlas, insgeheim die Mienen seiner Zuhörer beobachtend. Wirkten sie gelangweilt, so wurde das Kapitel gestrichen.

Dann rief vielleicht die Pflicht und der Landvogt zog sich in sein 20 Quadratmeter großes Arbeitszimmer im Erdgeschoss zurück, von wo aus er das heutige Nordfriesland einschließlich der Insel Sylt verwaltete. Die Akten haben in einem Schrank Platz, es musste nicht alles schriftlich begründet werden. Ein Mord im Hinterland? Der Landvogt muss ihn aufklären, verbindet das Ganze mit einem Familienausflug – und wer weiß, am Ende springt vielleicht eine feine Novelle dabei heraus.

Im früheren Elternschlafzimmer steht heute der Schreibtisch, den er zu seinem siebzigsten und letzten Geburtstag bekam, und an dem er den Schimmelreiter vollendete. Da lebte er in Hademarschen. Vier Säulen in Form einer Eule tragen das Oberteil, geschnitzt von einem 15-jährigen Lehrling aus einer Kieler Werkstatt. Emil Hansen hieß der junge Mann, der sich dann später Emil Nolde nannte.

Zum Schluss besuchen wir das Poetenstübchen im Obergeschoss, das original aus der Stormzeit erhalten ist und in dem mehr als zwanzig seiner Novellen entstanden. Steht man in diesem Zimmer mit seinen dunkelroten Wänden, dunklem Deckengebälk und dunklem Mobiliar, in das nur wenig Licht durch das kleine Fenster fällt, versteht man, warum Storms Geschichten oft etwas düster-melancholisch sind. Er hatte sich dieses Arbeitszimmer ‘selbst gedichtet’, als er die untere Etage aus Geldmangel vermieten musste. Die schwarze Holzdecke hatte er sich zu seinem 60sten geleistet, als er, wie er in einem Brief vermerkte, “als ein bis dato armer Mann endlich die Früchte seiner schriftstellerischen Arbeit zu ernten begann”. Denn nach Gründung des norddeutschen Bundes hatte die preußische Obrigkeit im Rahmen einer Verwaltungsreform die Husumer Landvogtei aufgehoben und ihn bei verminderten Bezügen zum Amtsrichter degradiert. Mit den Mieteinnahmen reichte es aber noch für zwei Dienstmädchen.

*  *  *

Zurück in die Stadt. Wir kaufen (a) C. J. Schmidt leer und (b) in der Buchhandlung im Schlossgang zwei Exemplare von Mit dem Kühlschrank durch Irland, eines für Gisela als Weihnachtsgeschenk.

* Siehe 1. November 1999.

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Mittwoch, 11. Oktober 2000

Es regnet, und welchen Ort kaufen wir heute leer? In Osterhever gibt es eine Galerie Biller und Böker, doch die öffnet erst um 14 Uhr. So legen wir auf halbem Wege einen Stopp in Garding ein.

Garding widersetzt sich dem Leekaufen. Der Antiqualitätenladen, wie wir nicht nur diesen Antik-Shop bezeichnen, hat mittwochs geschlossen, und das Buch mit den 200 plattdeutschen Liedern und Gedichten, das noch vorgestern in der Auslage eines Geschäfts an der Engen Straße lag, hat bereits einen Besitzer gefunden. Dafür ist die kleine Teestube geöffnet, die uns in den vergangenen Jahren stets versperrt blieb. Etwas arrogant die Inhaberin, so rasch kommen wir nicht wieder.

Es hört auf zu regnen und ein blauer Streifen zeigt sich am Horizont. So stehen wir eine halbe Stunde später auf dem Deich bei Ording, haben uns die Berechtigung vor dem Strandladen parken zu dürfen mit dem Kauf dreier Ansichtskarten erworben. Es ist wieder einmal Ebbe, in der Ferne sieht man die Pfahlhäuser. Wir beschränken uns darauf, etwas Nordseesand in eine Plastiktüte zu füllen – das mit Abstand preiswerteste Mitbringsel dieser Saison.

*  *  *

Aquarell von H. Hoppe (1998), © Juergen KullmannEs wird zwei Uhr. Frau Hoppe hat ihre Galerie Biller und Böker in einem Osterhever Reetdachhaus untergebracht: Ein Stübchen mit den Bildern, dahinter eines mit ausgewählten Büchern und ganz hinten das Atelier, in dem ihre Aquarelle entstehen. Nachdem sie jedem ein Tässchen Tee in die Hand gedrückt hat, zieht sie sich in dieses zurück und lässt uns allein – mein Mädchen im Biller-Stübchen und mich in dem mit den Büchern. Eine Dreiviertelstunde später brechen wir wieder auf, mit zwei Artikeln aus der vorderen und einem aus der hinteren Stube. Preisrelation Biller : Böker etwa 25 : 1.

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Donnerstag, 12. Oktober 2000

Keine Anzeichen von Regen. Dazu ist es fast windstill, und der Wetterbericht verspricht für den Nachmittag Sonne – vielleicht die letzte Chance für eine Radtour. Auf nach Friedrichstadt!

Wir nehmen den Weg südlich der Eider über Lunden, müssen also zunächst über die große Brücke. In einem Reiseführer aus dem Jahr 1973 wird sie noch ‘die neue Brücke’ genannt, bis dahin gab es hier unten am Karolinenkoog eine Fähre. Als sie 1886 als Dampffähre in Betrieb genommen wurde, konnte man auf Dithmarscher Seite in den Zug nach Heide einsteigen und via Neumünster bis nach Altona fahren. Für die Husumer war das die einzige Bahnverbindung nach Hamburg. Nach Fertigstellung der Eisenbahnbrücke bei Friedrichstadt und Fortführung der Marschenbahn bis Husum wurde die Strecke stillgelegt, und heute weist nichts mehr darauf hin, dass wir an der Endstation einer alten Eisenbahnlinie stehen. Immerhin heißt die Straße noch ‘Zur Fähre’, und das Gebäude vor uns, von dessen Obergeschoss ein Steg auf den Deich führt, war im vorletzten Jahrhundert ein Eisenbahnhotel.

Ob Brücken immer die bessere Lösung sind? Wir radeln weiter. An der Badestelle Wollersum legen wir die erste Pause ein. Das Fahrwasser vor uns, auf dem kaum noch etwas fährt, bildet die Grenze zu Nordfriesland. Es ist gegen Mittag, als wir wieder aufbrechen.

*  *  *

Friedrichstadt empfängt uns nicht so verschlafen, wie bei unserem Besuch im letzten Herbst – kein Wunder, es ist drei Wochen früher im Jahr. Auf der Bank vor dem Fischimbiss an der Ecke zum Markt erwerben wir ein Backfischbrötchen für meinen ‘Backfisch’ und eines für mich mit einem Hering nach Art des Eisernen Kanzlers. Und was passt dazu als Nachtisch? “Wie wäre es mit einer Tasse Tee und einem Stück Marzipantorte?” fragt mein Mädchen. Gute Idee!

*  *  *

Wir fahren wieder heim, grün leuchtet das Gras auf den Feldern zwischen St. Annen und Lunden in der Nachmittagssonne. Auf der Hinfahrt begegneten wir hier einem Mann, der seinen Hund per Auto ausführte und im ersten Gang hinter ihm hertuckerte. Nun beobachten wir einen, der seine Promenadenmischung mit dem Motorroller begleitet. Die Lundener Hundehalter scheinen nicht gut zu Fuß zu sein.

Während wir noch auf einer Bank am Wegrand unseren letzten Keks verzehren, senkt sich einen Kilometer vor uns die Schranke über den Feldweg. Zwei rote Dieselloks bringen den Schnellzug nach Westerland, der sich wie eine Spielzeugeisenbahn auf unsichtbaren Schienen durch die Felder bewegt. Ein sanftes Brummen und Tackern aus der Ferne, nächste Station Friedrichstadt.

Schafe am Karolinenkoog, Dithmarschen. © 2000 Juergen KullmannBadestelle Wollersum zum Zweiten, auch auf der Hinfahrt hatten wir hier gerastet. Wir schieben die Räder zu einer Bank an der Eider. Der Anleger liegt vor der im Westen untergehenden Sonne, die den Fluss und die Wiesen in ein warmes Licht taucht. Eine Formation Wildenten kreuzt ihn am Himmel. Es ist still – bis auf ein leichtes Geraschel hinter uns. Mein Mädchen dreht sich um und stößt mich an. In breiter Front schreitet eine Schafherde auf uns zu: “Määh, määh!” Worüber sie sich wohl unterhalten?

 
Maureen* fährt fort

MaureenIch glaube, ich muss mal ran und übersetzen, was ich von dem Gerede meiner friesischen Verwandtschaft mitbekommen habe:

– Also Leute, das sind sie ja wohl, die beiden, von denen uns Wulle erzählt hat.

– Määh, meinst du wirklich?

– Kein Zweifel möglich, sieh dir doch mal das Fahrrad von der Deern an, und dann erst ihre Packtaschen!!! Opa meint, es müsse mehr als zwanzig Jahre her sein, dass er dergleichen gesehen habe. So genau weiß er das aber nicht, er war damals noch ein junges Lamm.

– Määäh, Mama, sind die gefährlich?

– Der Kerl wohl nicht, soll mal in Irland ’nem Schaf das Leben gerettet haben, so ’ner dummen Tunte, die den Hals nicht voll kriegen konnte und ihren Kopf durch einen Maschendrahtzaun gesteckt hat. Pass ja auf, dass dir das nicht passiert! Der Deern aber sei nicht zu trauen, meint Wulle, sie hätte mal Mintsauce in ihrem Einkaufsbeutel entdeckt.

– Määäh, Mama, ist Mintsauce giftig?

– Das erklär ich dir, wenn du groß bist. Lass uns lieber wieder gehen.

* Maureen stieß im Juni in Irland zu uns und begleitet uns seither (s. unser irisches Tagbuch aus dem Jahr 2000).

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Freitag, 13. Oktober 2000

Welchen Ort haben wir noch nicht leergekauft? Richtig, St. Peter Dorf! Da gab es doch einen interessanten Bernsteinladen, also nichts wie hin! Der Laden ist rappelvoll, so dass weder das Gucken noch das Kaufen Spaß macht. Nach einem einstündigen Spaziergang durchs Dorf hat sich daran nichts geändert, so dass wir zum Zeitvertreib nach St. Peter Bad wandern. ...

 
Nachtrag vom 26. Dezember 2000

Damit enden die Tagebuchnotizen vom 13. Oktober 2000. Zum Weiterschreiben kam ich nicht mehr, und am nächsten Vormittag ging es zurück nach Dortmund. Nun sind wir schon wieder in Nordfriesland, doch ehe ich mit neuen Aufzeichnungen beginne, noch einen Nachtrag.

Auf unserem Fußweg von St. Peter Dorf nach St. Peter Bad kamen wir an einem kleinen Bernsteinlädchen vorbei, das wir bis dato noch nicht kannten. Nicht ein Kunde war im Verkaufsraum, nur der etwas schüchtern wirkende Inhaber mittleren Alters. Und hier erwarb man die Bernsteinkette, die die Liebste ‘offiziell’ eine Woche später zum Geburtstag bekam und nun um den Hals trägt.

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Reiseberichte Nordfriesland: Herbst 2000
© 2008 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 12.07.2017