Im Fischerhaus

– September 2004 –

 

Zum Geleit: Es gibt in Tönning viele Fischerhäuser. Bei dem folgenden ‘Fischerhaus’ handelt es sich nicht um Namen der Ferienwohnung, wie er zum Beispiel im Gastgeberverzeichnis der Tourist-Information zu finden ist, sondern um die ‘Typbezeichnung’.

 

Freitag, 10. September 2004

Nur knapp fünf Stunden waren wir ‘on the road’, als wir gegen 13 Uhr in Tönning eintreffen – bei sommerlichen Temperaturen, wie wir sie in Nordfriesland zuletzt zur Jahrtausendwende erlebt hatten. Wir finden die Straße und werfen einen kurzen Blick auf unser Fischerhaus aus dem 18. Jahrhundert. Ein schmales Häuschen, eingezwängt zwischen anderen, denn als Fischer lebte man mit Frau und Kinder auf wenig Raum. Doch jetzt haben wir erst einmal Hunger.

Freiluftgastronomie am Hafen, beginnend beim eher etwas teureren Godewind über den mittelpreisigen Goldenen Anker bis hin zu Guszinkis preiswert-leckerem Fischimbiss. Ein Tisch im Schatten ist noch frei. Lange ist es her, dass wir das letzte Mal hier saßen. Birgit lebte damals noch und hatte uns mit ihrer Familie übers Wochenende besucht. Ein warmer Septembertag wie heute, und wir waren geplättet, auf welchen Betrag sich selbst in einem Fischimbiss eine Rechnung für vier Erwachsene und drei Kinder summiert.

Am Nebentisch sitzt eine Dame von vielleicht 70 Jahren und blinzelt in die Sonne. Eine Alleintouristin, wie es scheint, vor sich ein großes Glas Bier und eine Fischplatte mit Kartoffelsalat. Zufrieden mit sich und der Welt. Freundlich nickt sie zu uns herüber.

Bei Guszinskis ordert man drinnen, bezahlt und bekommt die Mahlzeit dann herausgebracht. Bis auf das Bier, das trägt man selbst. För mien Deern eine Sandscholle – hoffentlich schmeckt sie nicht so, wie sie heißt – und für mich einen Fischspieß. Das Bestellen dauert wegen des Andranges etwas länger, und als ich mit zwei Flens und zwei Gläsern zurück bin, ist die Dame verschwunden.

*  *  *

Von unserer Ferienwohnung, dem Fischerhaus will ich schreiben, in dem wir die kommenden zehn Tage verbringen werden. Doch es klappt nicht so recht. Das Haus erzählt nichts von sich, fühlt sich vielleicht misshandelt von seinem Besitzer, der es vor einigen Jahren erwarb und mit seinem Tüddelkram vollstellte. Auch das ächzende Sofa im Wohnzimmer hat schon bessere Zeiten gesehen. Nun stellt sich das kleine Fischerhaus stur, ist stocksauer und muffig. Irgendwie riecht man diese Stimmung. Wir lüften.

*  *  *

Es ist warm, zu warm für diese Jahreszeit, und wir bummeln durchs Städtchen. Die Eisdiele am Markt, die wir bislang nur geschlossen kannten, wartet auf Kunden. Wir gönnen ihr eine kleine Einnahme: zweimal zwei Kugeln Orange und Maracuja bitte.

Vor dem Herrengraben ist eine große Straßenbaustelle eingerichtet, derweil das stattliche weiße Haus an der Ecke immer noch von seinem Herrn renoviert wird. Eine hohe Leiter steht an der Hauswand, und die herrschaftliche Treppe sieht nicht mehr einsturzgefährdet aus. Wahrscheinlich darf das Haus nicht fertig werden, das könnte dem seit Jahren daran werkelnden Besitzer die Lebensaufgabe nehmen.

Das Haus weiß das und gibt sich alle Mühe, dieser Verantwortung gerecht zu werden. So lässt es, wo er nun nach vielen Jahren mit seiner weißen Farbe oben am First angekommen ist, sie unten wieder abblättern.

Ein anderes Gebäude hat weniger Glück. Niemand mag es. Seit Jahren steht die alte Post zum Verkauf, trutzig und wehrhaft in der Bahnhofstraße, doch keiner will sie. Ein Leitender Oberpostdirektor muss hier über ein Heer von Beamten geherrscht haben, geht dem Passanten beim Betrachten des imposanten Gebäudes durch den Sinn. Und heute wird der gesamte Postservice im Hinterstübchen von Boy Hamkens am Markt erledigt. Doch nicht nur die Post, auch manch ein anderer Laden steht leer und wartet auf einen ideenreichen Käufer mit dem Aufschwung in der Tasche.

Das Eis ist aufgegessen und ich klappe das Tagebuch zu. Wir wollen zurück in unser Fischerhaus, vielleicht freundet es sich noch ein bisschen mit uns an. In den etwas liebevoller eingerichteten Oberstübchen scheint es weniger miesepetrig zu sein. Nur sind es vom Schlafzimmer im oberen Stockwerk bis zum einzigen Bad unten im Anbau gefühlte 100 Meter. Doch ich will nicht ungerecht sein, immerhin gibt es oben im Kinderzimmer ein Waschbecken – unüberhörbar, denn wenn das Wasser läuft, dröhnt es durchs ganze Haus.

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Sonnabend, 11. September 2004

Was haben der ‘smoking ban’ in irischen Pubs und der nordfriesische Regen gemein? Sie fördern das ‘sozialising’. Mehr dazu später.

“Doch der Sommer fährt dahin,” singt nicht nur von einer unserer mitgebrachten CDs Franz-Josef Degenhardt, auch das Deutsche Meteorologische Institut verkündet dies seit einer Woche und sagt für heute seinen Abschied voraus. Muss man dem glauben?

Es ist nicht mehr so heiß wie an den vergangenen Tagen, und so schieben wir die Fahrräder an der Badezimmertür vorbei durch die Küche und den Flur – der Leser mag daraus Schlüsse über den Zuschnitt unseres Fischerhauses ziehen – ins Freie. Wenn die Müllabfuhr kommt, wird die Mülltonne auf dem gleichen Weg vom Garten zur Straße gerollt.

Vielleicht war es ein Fehler, den Korb mit der Fotoausrüstung auf den Gepäckträger zu packen, denn oft hat man den Eindruck, dass eine Fotoausrüstung Tiefs anzieht, wie der Nordpol die Kompassnadel. Zu Beginn zeigt sich der Himmel noch recht freundlich, doch von Kilometer zu Kilometer wird er dunkler. Vollerwiek ist unser Ziel. Zunächst geht es ein Stück über den Eiderdeich, dann unten an ihm entlang durch Klein- und Groß-Olversum. Der Himmel verdunkelt sich weiter, kam da nicht ein Tropfen von oben? Wir lassen uns nicht beirren, fahren über den alten Deich durchs Katinger Vorland, vorbei an der noch geschlossenen Gastwirtschaft Andresen. Hinter der NABU-Station kreuzen wir die Straße zum Eidersperrwerk, und dann beginnt es zu schütten. Den Nordseedeich schon vor Augen, rettet uns ein Holzhäuschen.

Zwei Damen, per Rad nach Garding unterwegs, gesellen sich prustend zu uns. Womit wir in unserer Hütte eigentlich ausgebucht sind, doch zwei weitere Biker, die wir in der letzten Viertelstunde vom Sperrwerk kommend über die Deichkrone radeln sahen, haben gleichfalls den rettenden Unterstand entdeckt und nähern sich von rechts, derweil von links ein junger Mann in Postbotenjacke anrückt, sein Rad an die Hütte lehnt und zu uns ins Trockene flüchtet.

Nun wird es aber wirklich eng. Fünf Personen haben sich auf die schmale Sitzbank gequetscht, die beiden zuletzt gekommenen stehen. Wobei die auf der Bank nicht unbedingt die besseren Plätze haben, besonders, wenn sie unter einer undichten Stelle im Dach sitzen. Patsch, gerade habe ich wieder einen Tropfen abbekommen.

Der Herr in der gelben Jacke hütet schweigend das Postgeheimnis, die beiden anderen unterhalten sich mit den Damen. Sie kommen aus Büsum, erfahren wir, und wollen heute noch um ganz Eiderstedt herum nach Husum. Morgen geht es dann weiter nach Niebüll und übermorgen zur Ostsee rüber nach Flensburg. Übernachtung in Jugendherbergen. An die Jugendherberge in Husum erinnert sich mein Mädchen aus alten Zeiten. Sie hatte ihr damals gar nicht gefallen, roch zu sehr nach Blut-und-Boden-Ideologie. Doch das ist ein Vierteljahrhundert her.

Der Regen wird wärmer und verzieht sich nach einer halben Stunde. Die Schicksalsgemeinschaft in der Hütte löst sich auf, sieben Menschen und vier Richtungen. Unsere führt über den Deich nach Vollerwiek.

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Sonntag, 12. September 2004

Ein Regen- und Maltag. Schon gestern auf dem Rückweg von Vollerwiek öffnete der Himmel wieder seine Pforten. Mit Mühe und Not erreichten wir die ‘Strandmuschel’ auf dem Deich am Freibad. Eigentlich soll man dort oben nicht Rad fahren, doch das war uns egal.

Wir waren nicht die einzigen: zwei gesprächige Damen, ein nicht minder gesprächiger Herr und eine Familie mit zwei Kindern hatten sich dort gleichfalls ins Trockene gerettet. Erneutes Kontaktknüpfen. Der Pächter vom Eiderkrug, erfährt man von den Damen, habe zwar einiges investiert, sei aber als Geschäftsmann völlig unfähig. So habe er letzte Woche an einem herrlichen Sonnentag auf seinem Ruhetag bestanden. Was er da hätte einnehmen können!?! Unglaublich!

“Soll er doch”, knurrt der Herr, es sei ja sein eigenes Geld. Die Stadt Tönning jedoch werfe das Geld ihrer Bürger zum Fenster raus. Da habe man Strandkörbe angeschafft, und seit einer Woche würden sie nicht mehr vermietet. Weil die Saison angeblich vorbei sei, und dabei gebe es noch genügend Touristen. Wie man sehe – er weist auf die Strandkörbe vor uns – würden sie noch nicht einmal weggeräumt oder versperrt, so dass die Besucher sie nun kostenlos nutzten und Kinder in ihnen herumtoben und sie ramponieren könnten.

Hildergard Vogt-Kullmann, Leuchtturm in den DünenSoweit der Nachtrag zu gestern. In der Nacht hören wir den Regen aufs Dach klatschen, und am Morgen schüttet es weiter. Storms Regentrude beweist, dass sie keine Legende ist. Wir wandern durch den Souvenirshop des Wattforums, dann packt mien Deern ihre künstlerische Ader und sie malt den zweiten Leuchtturm ihres Lebens. Ein Leuchtturm in den Dünen – die Ähnlichkeit zu einer real existierenden Postkarte ist nicht ganz zufällig. Neben dem Leuchtturm im Windschatten der Dünen ein kleines Haus – ob es wohl zum Verkauf steht?

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Montag, 13. September 2004

Mein Mädchen kommt vom Brötchen- und Zeitungsholen zurück, mit einem Termin ‘für gleich’ in der Tasche.

Die Vorgeschichte: Am Zeitungskiosk des Ortes entdeckten wir gestern im Aushang eines Immobilienmaklers einen auf den ersten Blick ganz netten Bungalow. Für nur € 85.000 (VB). Ob er wisse, wie und wann man mit dem Herrn Makler Kontakt aufnehmen könne, fragte mein Mädchen den netten Zeitungsverkäufer, derweil sie in ihrem Portemonnaie nach dem Kleingeld für die Husumer Nachrichten kramte. Der stehe vor ihr, meinte der Gefragte schmunzelnd.

Gut eine Stunde später sitzen wir im Hinterstübchen von Herrn Struves Kiosk. Herr Struve spricht bei Bedarf Plattdeutsch, besitzt einen Klappreekner (Klapprechner, Laptop) und nimmt uns in seine Kartei Immobilien suchender Möchtegern-Friesen auf. Dann lüftet er das Geheimnis des Standortes des Bungalows und schlägt noch ein zweites Anwesen vor. Wir beschließen, die beiden Objekte zunächst von außen zu besichtigen, wollen aber zuvor nach Husum, um den Ort in Erwartung von Regen endlich einmal als ‘graue Stadt am grauen Meer’ kennen zu lernen.

Statt Regen erwartet uns in Husum ein wunderschöner Spätsommertag. Wir sind überrascht: die Hafenmeile ist jetzt verkehrsberuhigt und hübsch gepflastert, was der Stadt sichtlich gut tut. Freiluftgastronomie, wo noch im letzten Jahr die Autos knatterten.

Nach der gestrigen Mal-Aktion braucht mein Mädchen vier neue Farben, das Touristenbüro, das sich hier Tourist Information nennt, weist den Weg zu einem Laden. Nach längerer Diskussion mit dem ihr Angetrauten und inneren Kämpfen (Darf man als Immobilieninteressierte so viel Geld für vier Tuben Farbe ausgeben? Soll man sich nicht lieber mit den Farben aus der schnöden ‘Einsteigerserie’ begnügen, statt zu den teueren ‘Künstlerfarben’ zu greifen?) wählt man dann doch die teurere Variante. “Dafür hätten wir auch luxuriös zu Abend essen können”, werde ich nach dem Verlassen des Ladens informiert. Was soll’s, dann essen wir halt Fischbrötchen und trinken jeder eine Flasche Flens.

*  *  *

Auf dem Weg nach Husum hatten wir uns den ersten zum Verkauf stehenden Bungalow angeschaut. Die Wohnlage gefiel uns nicht und das Äußere weckte kein großes Interesse auf eine Besichtigung von Innen. Auf dem Rückweg werfen wir einen Blick auf das zweite Objekt – düster und total verbaut und im Schuppen hinter dem Haus ein Berg leerer Flaschen. Ein Scheidungsfall, hatte uns der Makler erzählt.

Hildergard Vogt-Kullmann, Leuchtturm in den DünenDa muss man nicht lange überlegen, sondern packt die neuen Farben aus. An der Wand im Wohnzimmer hängt ein kleines, fast schwarz gewordenes Ölbild eines anderen Fischerhauses. So etwas könnte man doch auch mal malen!

‘Das Fischerhaus oder Der Tag, an dem die Wäsche von der Leine verschwand’, nennt mein Mädchen das von diesem Bild inspirierte Werk. Denn zunächst hing – wie auf der Vorlage – noch Wäsche auf der Leine, doch dann malte sie sie wieder weg. Es folgte eine ruhige Nacht.

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Nachtrag vom Dezember 2004

Mit den obigen Zeilen endete ziemlich abrupt das Tagebuch jener Septemberreise. Das ‘Immobilienfieber’ hatte uns gepackt, und in den nächsten Nächten schliefen wir weniger ruhig.

Am Tag darauf fuhren wir noch ganz entspannt nach Oldenswort, besichtigten in einer Privatführung die Kirche auf der Warft – und entdeckten nicht weit von ihr einen Aushang mit weiteren Immobilienangeboten. Auch ein Objekt in Tönning war dabei, zu einem Preis, der zu unseren Vorstellungen passte. Der Makler, wiederum ein sehr sympathischer Mann, stellte sich als Bürgermeister von Oldenswort heraus. Unser Weltbild von ‘Maklern als glattzüngige Immobilienhaie’ müssen wir wohl revidieren.

Die Besichtigung des Objekts erfolgte am übernächsten Tag: ein Gebäude aus den 50er Jahren, das Grundstück recht groß und die Lage passabel. Dazu waren die Räume fast einzugsfertig renoviert, was will man mehr? Doch dem Haus fehlte irgendwie das Flair. Es sprach nicht zu uns, sagte nicht: “Ich will euch!” Was tun? Es folgten schlaflose Nächte und unruhige Tage, an denen wir viel über das eigentlich so günstige Angebot nachdachten und ich nicht die Muße aufbrachte, etwas ins Tagebuch zu schreiben. Am Ende sagten wir ab.

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Das war im September, und in einer Woche fahren wir wieder nach Tönning und verbringen dort den Jahreswechsel. Ob wir uns diesmal von Immobilienaushängen fernhalten können?

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Weitere Reisetagebücher


Reiseberichte Friesland: 11. Reise, September 2004
© 2004-2008 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 14.11.2008