Im Zwischen den Jahren

– Jahreswechsel 2004/05 –

 

Sonnabend, 25. Dezember 2004

Und wieder leert sich ab Heide die Bundesstraße 5, auch ohne Eisregen und Schneegestöber. Die Sache mit dem Hauserwerb hatte im September nicht geklappt, und so wohnen wir wieder bei Seilers unterm Dach in der Süderstraße. Das Fischerhaus muss es nicht noch einmal sein.

Ich habe Glück gehabt, denn seit Hamburg sitzt mein Mädchen hinter dem Steuer und muss nun rückwärts einparken. Der Schlüssel steckt von innen an der Haustür, und auch sonst enttäuscht uns Frau Seiler nicht: eine Flasche Sekt steht auf dem Tisch, daneben ein großes Stück in Alufolie eingewickelter Räucherlachs.

Doch wie bekommt man den Kühlschrank in Gang, um beides zu temperieren und die mitgebrachten Lebensmittel zu lagern? Die Suche nach Steckern, Steckdosen und Steckerleisten in Kühlschranknähe führt zu nichts. Bis dann die weibliche Intelligenz kurz vor Ausbruch eines Ehestreits den Begriff ‘Sicherungskasten’ in den Raum stellt, der im Abstand von 70 cm zum Kühlschrank gefunden wird und in dem der Hebel einer der Sicherungen aus der Reihe tanzt. Ein kleiner ‘Klack’ stellt die Symmetrie wieder her, und der Kühlschrank beginnt zu brummen.

*  *  *

Es dämmert schon, als wir eine Viertelstunde nach fünf zu einem ersten Rundgang durch Tönning aufbrechen. Ein sanfter Regen hat eingesetzt, doch für einen solchen Fall hat Frau Seiler vorgesorgt, denn im Hausflur findet sich ein Schirm mit dem Aufdruck ‘Spendet Blut’. Wenn die örtliche Gastronomie noch nicht ganz in den Händen von Vampiren ist, wird sie vielleicht auch unser Geld nehmen.

Der Herrengraben ist noch immer eine Baustelle, die Zeit verstreicht hier mit der gleichen Langsamkeit wie in Irland. Am Ende der Baustelle steht Herrn Struves Kiosk. Hinter der Scheibe seines Schaukastens findet man Immobilienangebote aus Tönning und ‘aller Welt’, wobei der wohlinformierte Immobilien-Suchende weiß, dass der Ort Welt acht Kilometer von hier entfernt liegt. Wir riskieren einen Blick – wenn wir jetzt etwas finden, geht der Stress wieder los. Doch Schwein gehabt, für uns ist nichts Passendes dabei.

Ansonsten? Boy Hamkens’ universellen Laden für alles außer Lebensmittel und Kleidung gibt es ebenso noch wie die Mühlenbäckerei und den Spar-Markt Ratjens, und die Neustraße scheint in den letzten drei Monaten von weiteren Geschäftsschließungen verschont geblieben zu sein. Am Ende unseres Rundgangs, es ist fünf vor sechs, gehen wir im Roten Hahn vor Anker. Mein Mädchen bekommt zu ihrem Hüftsteak vom heißem Stein Champignons aus dem Glas, was ihr gar nicht gefällt. Der Kellner wird entsprechend informiert.

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Sonntag, 26. Dezember 2004

Gefroren hat es heuer, auf der Scheib’ gar fest das Eis ...”, also ist erst einmal Kratzen angesagt. Die große Sandbank von St. Peter Ording ist unser Ziel. Weiße Schwaden legen sich über das Land, während wir nach Westen fahren. Ich schalte das Licht ein. Einige hundert Meter links von uns taucht ein ‘Nebelreiter’ aus dem Dunst auf, ein Triebwagen der Nord-Ostseebahn fährt in die gleiche Richtung. Eine Zeitlang sind wir gleich schnell, dann macht die Straße einen Bogen und der Zug verschwindet im Nirgendwo.

Am Bahnhof von St. Peter Ording kommt der Nebelreiter gerade quietschend zum Stehen, als wir auf den Parkplatz fahren. Dann verzieht sich der Schleier und die Sonne gibt ein Intermezzo.

Über die lange Seebrücke – fast einen Kilometer ist sie lang – schlendern wir dem Meer entgegen. Grün-braun der vor kurzem noch überspülte Strandhafer, in der Ferne leuchtet weiß die Gischt und durch die Stille braust, heute allerdings recht sanft, frei nach Storm das Meer. Die auf ihren Stelzen ruhende Arche Noah ist geschlossen, es sieht jedoch danach aus, als würde sie zum Jahreswechsel öffnen. Irgendetwas tut sich hinter den fahlen Scheiben.

Sandbank St. Peter Ording, © 2007 Juergen KullmannWir passieren das Restaurant und wandern am Ende der Stegs ein Stück auf die Sandbank hinaus, erklimmen ein Holzgerüst, dessen Zweck sich uns nicht so ganz erschließt – eine sommerliche Rettungsinsel für Strandkörbe bei Springflut, meint mein Mädchen – und lassen uns in knapp zwei Meter Höhe auf einer Planke nieder. Vor uns glitzert der nasse Sand. Menschen bewegen sich um die Pfützen herum zur Wasserkante und zurück, andere wandern am Spülsaum entlang.

Tun wir es ihnen gleich und halten wir nach Strandgut Ausschau! Wir rutschen von unserer Planke und hangeln uns nach unten. Ein paar Muschelschalen för mien Deern und zwei nasse Füße für mich; dann geht es heim nach Tönning, das immer noch im Nebel versunken ist.

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Montag, 27. Dezember 2004

Nach Husum fahren heißt Hosen kaufen – gleich zwei Stück in einem Laden an der Roten Pforte, um damit den Bedarf für die nächsten zwei Jahre zu decken. Die Straße hat eine eigene Website, doch mit einem Rotlichtviertel nichts gemein, denn der Name rührt von einer roten Gartenpforte her. Ein Zitat aus www.rote-pforte.de:

“Zwischen den Häusern Markt 22 und 24 führte bis 1935 ein kleiner Privatweg entlang. Die Anwohner nutzen diesen Weg lange Zeit, um an die Au oder zum Lemmerfennenweg, der heute noch hinter einem Teil der Süderstraße verläuft, zu gelangen. Als 1910 der neue Bahnhof entstand, diente der schmale Gang den Husumern als Abkürzung dorthin. An seinem Ende befand sich eine rote Gartenpforte, die jeden Abend rechtzeitig verschlossen wurde. Dies sollte dokumentieren, dass es sich hierbei um einen Privatweg handelte.”

Die Suche nach einem norwegischen Pullover, den sich mien Deern für mich in den Kopf gesetzt hat, gestaltet sich weniger erfolgreich. Die Verkäuferin in dem Norwegerladen am Markt ist mir unsympathisch und hat nichts Gefälliges auf Lager. Letztes Jahr in Tromsø, da gab es schöne. Ich schaue mein Mädchen an: Wenn wir hier kein Haus finden, dann hätten wir doch Geld, die Fahrt mit der Hurtigrute zu wiederholen ... ?

All das notiere ich nun einen Tag später, und vor dem Fenster unserer Ferienwohnung tanzen Schneeflocken, während ich dies ins Tagebuch schreibe. Ein Schluck Rotwein, und ich fahre fort:

Wir wandern also weiter durch Husum, das sich endlich einmal als ‘graue Stadt am grauen Meer’ zeigt. Die Aushänge der ortsüblichen Immobilienhaie sind zum Glück nicht allzu verlockend, und so gesellen sich zu den zwei Hosen nur noch zwei Tuben Farbe: Zinkweiß und Chromoxidgrün, natürlich in ‘Künstlerqualität’.

Unheimliche Geschichten aus NordfrieslandWenn die Liebste malt, brauche ich etwas zum Vorlesen. In der Buchhandlung Delff entdecke ich Das Düwelsloch, eine Sammlung mysteriöser und unheimlicher Geschichten aus Nordfriesland. Vorsicht ist angesagt, erfahre ich beim Durchblättern, wenn der Skipper auf dem Weg zu einer Hallig über dieses Düwelsloch fährt. Auch werden wir uns, sollten wir in 20 Jahren erneut Friedrichstadt besuchen, nun nicht mehr wundern, wenn der schweigsame Mann auf dem Markt, der, ‘der nicht aus Friedrichstadt kam’, um keinen Deut gealtert ist. Und auf gar keinen Fall werden wir uns ein Haus in Tönnings Neuweg andrehen lassen, ganz egal, wie günstig es ist!

Der Nachmittag endet mit einem Guinness im Husum Pub, auch der Fisch dazu ist lecker.

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Dienstag, 28. Dezember 2004

Saukalt ist es an diesem Vormittag. Während wir durch Tönning streifen, frieren mir fast die Ohren ab. Als wir – ohne etwas erstanden zu haben – nach einer Aufwärmpause aus Eggers Schuhladen kommen, beginnt es auch noch zu schneien. Der Wind kommt von vorn und bläst uns das Gestöber direkt in die Augen.

Zurück in unser Stübchen unter Seilers Dach, wo ein Krabbensüppchen gekocht wird. Ein Rest Rotwein will auch nicht sauer werden, und so schreibe ich erst einmal auf, was wir gestern in Husum gemacht haben.

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Mittwoch, 29. Dezember 2004

Die Sonne hat sich zurückgemeldet, zumindest in St. Peter Ording. Den Norweger-Pullover, den uns Husum vorgestern verweigerte, finden wir hier und heute auch nicht.

Der lange Steg zur Sandbank hinaus liegt in der Sonne. Wir haben ihn hinter uns gelassen. Es ist fast windstill und wir stapfen der Brandung entgegen, vorsichtig auftretend, um keine nassen Füße zu bekommen. Denn hauchdünn liegt ein Wasserfilm auf dem Sand, und im Gegenlicht scheint es, als würden Menschen übers Meer schreiten. Vor allem Kindern macht das wahnsinnig viel Spaß, aber auch manch einem Hund.

Die Arche Noah ist bis März geschlossen und wirkt von unten betrachtet arg marode auf ihren Pfählen. Wir sind gespannt, was aus der angekündigten umfassenden Renovierung wird.

Muscheln knirschen unter unseren Füßen. Man ist vorsichtig, mag nichts kaputt treten. Der Blick nach Bernstein ist jedoch vergeblich – der Bernsteinwerfer von St. Peter Ording genießt vermutlich seinen wohlverdienten Weihnachtsurlaub.

MeeresleuchtenDie Geschichte von diesem Bernsteinwerfer fanden wir in einem Buch mit sieben Deich- und Strandgeschichten, das wir im September in der Buchhandlung am Ortseingang erstanden hatten. Sein Job war, im Auftrag der Kurverwaltung allmorgentlich am Strand entlang zu wandern und kleine Bernsteine auszuwerfen, damit die Touristen etwas zu finden haben. Meeresleuchten lautete der Titel des schmalen Bändchen.

Keinen Urlaub hingegen gönnt sich der Koch in Kerlins Kupferpfanne zu Garding. “Mal etwas ganz anderes?” fragt die Dame des Hauses. Klar doch, Schweizer Rösti mit Lamm Provenzale und Raspelsalat!

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Donnerstag, 30. Dezember 2004

Da hatte man gestern nach der Wanderung über die Sandbank vor St. Peter Ording die leise Andeutung gemacht, die erst im vergangenen Winter nicht weit von hier erstandenen Wanderschuhe würden (immer noch) an den kleinen Zehen drücken, und schon findet man sich von Marx- und Engelszungen überredet zwecks Förderung der Fußgesundheit und des Wirtschaftsaufschwungs in der Herrenabteilung eines Husumer Schuhgeschäfts wieder.

Pisa-Test 2004: Was kosten ein Paar mit € 124 ausgezeichnete Schuhe, wenn sie mit einem gelben Punkt (= 20 % Nachlass) markiert sind, und auf den so nachgelassenen Preis an der Kasse nochmals ein Nachlass von 20 % gewährt wird?

Wenig genug! Stimmt, Prüfung bestanden, die Schuhe gehen mit. Und ein paar andere Dinge zwischen Porzellan und Wolle gesellen sich aus anderen Läden dazu.

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Freitag, 31. Dezember 2004

Unser Leben bewegt sich in diesen Tagen zwischen den Jahren zwischen Husum und St. Peter Ording mit Tönning als Mittelpunkt unserer Welt. Heute schwingt das Pendel über Tönning zurück nach St. Peter Ording und wir stehen im Souvenirladen am Eingang zu St. Peter Dorf.

Weise Erkenntnisse von mitunter weisen Menschen über wichtige Dinge des Lebens lese ich in einem Heftchen für acht Euro, das ich aus einem der Regale gefischt habe. So fragte sich Albert Einstein, wozu der Mensch eigentlich Socken braucht – sie würden ja doch nur Löcher erzeugen.

Dass Einsteins Relativitätstheorie hochaktuell und die Zeit auch in Nordfriesland eine Funktion des Ortes ist, sieht man ein paar Häuser weiter an der Olsdorfer Str. 6 schräg gegenüber dem Olsdorfer Krug. Hier steht das ‘Museum der Landschaft Eiderstedt’. Ein großes Schild warnt:

Dieses Reetdachhaus steht seit 1752, zwei Sekunden können
es vernichten. Kein Feuerwerk in St. Peter!

Der interessierte Tourist begibt sich um die Ecke zur anderen Seite des Gebäudes und findet auch hier ein Schild:

Dieses Reetdachhaus steht seit 1752, fünf Sekunden können
es vernichten. Kein Feuerwerk in St. Peter!

Wir wandern mit Blick auf das Meer von St. Peter Dorf nach St. Peter Bad. Der Himmel ist grau und es ist fast windstill. Wir sind nicht die einzigen auf dem Deich, doch die meisten haben ein höheres Schritttempo drauf. Drei fidele Damen im Alter von 60+ überholen uns. Bei einer piept das Handy, drei Köpfe beugen sich über das Gerät. Eine Sylvester-SMS hören wir noch, dann sind sie uns entschritten.

Wie lange braucht man für die geschätzt zwei Kilometer? Ich weiß es nicht, bin nicht in Besitz einer Uhr, doch die Pfahlhäuser auf der Sandbank werden größer. Dann stehen wir am Beginn der Seebrücke, aber auf die Sandbank wollen wir heute nicht, sondern in das Bistro an der Ecke neben der Buchhandlung. Hier wird für nur zwei Euro der mit Abstand preiswerteste Pharisäer der Landschaft Eiderstedt serviert, vielleicht sogar der gesamten deutschen Nordseeküste. Zum Vergleich: Im Hafenblick zu Tönning kostet er € 4,30.

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Sonnabend, 1. Januar 2005

Das Jahr 2005 zwängt sich noch etwas zögerlich aus dem Bleistift – kein Wunder, denn es ist gerade einmal zehn Stunden alt. Nach zwei alten Agatha-Christie-Filmen hatte es sich vor eben dieser Zeit auf dem den Tönninger Hafen schneidenden Längengrad mit Böllern und Raketen begrüßen lassen.

Es war eine klare Nacht gewesen, doch nun ist es grau, kalt und trüb, während wir über ausgebrannte Böllerhülsen zum Multimar Wattforum wandern, wohl die einzige Einrichtung, die heute geöffnet hat. Wir wollen nur ein bisschen im Museums-Shop stöbern, und so geht schließlich für € 3,80 ein kleines Heftchen mit Anekdoten, Sagen und Geschichten über die Halligen, Nordstrand und Pellworm mit – der erste Einkauf des Jahres 2005.

Es ist noch zu früh für unser Startmenü ins neue Jahr (Spaghetti mit einer Tomanten-Basilikum-Sauce, auch als Mirakuli bekannt), also wandern wir ein Stück über den Eiderdeich bis zur ‘Strandmuschel’ hinter dem Hotel Fernsicht. Ein paar Spaziergänger und ein alleinspazierender Hund kommen uns entgegen. Wir setzen uns für ein paar Minuten auf die Bank in dem Unterstand, der schon etwas marode zu werden beginnt.

Wer hat eigentlich den heutigen Tag als Jahresbeginn festgelegt? War es ein Papst oder ein römischer Kaiser? Willkürliche Punkte im Raum der Zeit, doch sie machen immer etwas melancholisch, wie auch Geburtstage von einem gewissen Lebensalter an.

Kumm mien Deern, jetzt keine trüben Gedanken. Gehen wir heim, kochen wir unsere Spaghetti und entkorken wir eine Flasche Rotwein!

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Weitere Reisetagebücher


Reiseberichte Friesland: 12. Reise, Dezember 2004
© 2004-2009 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 07.10.2009