Carolinensiel zum Zweiten

– Ostern 2005 –

 

Gründonnerstag, 24. März 2005

VEileen Ógier Ferienwohnungen hat Frau Multhaupt zu vermieten, von denen wir eine abbekommen. Ein kleines Missverständnis zu unseren Gunsten: drei Reisende hatte sie erwartet, und da wir nur zu zweit sind (unser Reise- und Navigationsschaf Eileen Óg zählt bei der Berechnung des Preises nicht mit), wird die 6-Tage-Miete um 30 Euro reduziert.

Die in letzter Minute ergatterte Ferienwohnung – das Ferienhaus vom vergangenen Jahr war leider schon belegt – erweist sich allen Unkenrufen zum Trotz nicht als Spitzwegs Armes-Poeten-Stübchen. Sie ist ganz nett eingerichtet und besitzt sogar eine Dachterrasse. Nur die Fahrräder sind etwas sauer, denn sie müssen die nächsten Nächte hinter dem Haus im Regen verbringen, doch noch genießen sie einen sonnigen Donnerstag-Nachmittag und kurven mit uns um den Sielhafen.

Hier steht noch ein Kaufmannsladen aus einer Zeit, in der Selbstbedienung eine Zumutung, wenn nicht gar ein kulturelles Defizit war:

–  Was darf es sein, meine Dame?
–  Ein Paket Persil, bitte.
–  Natürlich, gerne meine Dame!

Und der kleine Kaufmann hinter der Theke steigt in seinem blauen Kittel auf einen Trethocker, öffnet die Glasschiebetür des Regals hoch über sich und holt das Gewünschte herunter. Wir sind in Carolinensiel und schreiben das Jahr 2005.

Nein, Waschpulver hat mien Deern hier nicht am Tag unserer Ankunft gekauft, auch wenn das einen anderen Kaufmann in Irland verwundern mag. Ein Teegeschirr war ihr im Schaufenster – bildlich gesprochen – ins Auge gefallen. Diesen Erwerb schildert sie nun selbst.

Mien Deern fährt fort

Glück gehabt! Die junge, noch unentschlossene einzige Kundin vor mir besichtigt zwar das von mir anvisierte Geschirr, kauft aber doch nur 125 g Tee der ostfriesischen Hausmarke, der lose in eine braune Papiertüte abgefüllt wird. Nun komme ich dran, lasse mir vom einzigen Verkäufer und Inhaber des Ladens zunächst die Teetassen ‘Indisch Blau’ zeigen, dann die zugehörigen kleinen Gebäckteller.

Inzwischen betreten weitere potentielle Kunden den Laden, doch ich beschäftige den Kaufmann weiter, frage nach zwei Schüsseln aus dem Schaufenster und betrachte sie unentschlossen, derweil die Blicke freundlich auf mich gerichtet sind.

Gnädig lasse ich einen Kunden vor und gewinne Zeit, mir meine Entscheidung gründlich zu überlegen. Nachdem der Vorgelassene seinen Handel abgeschlossen und 250 g Tee sowie einen Löffel erstanden hat, beschäftige ich wieder den Kaufmann und erwerbe unter den kritisch-fachkundigen Blicken von mittlerweile fünf wartenden Kunden vier Teetassen mit Tellern sowie die beiden Schüsseln. Der kleine Mann hinter der Theke packt sie sorgfältig ein und notiert sich die Preise auf einem Zettel.

Ich entschuldige mich bei den Wartenden für ihre Geduld, doch niemand ist genervt. Im Gegenteil, alle sehen mich freundlich an und erklären, sie hätten doch Zeit. Ich weiß genau, die sind aus dem Ruhrgebiet, und wehe, es stellt sich jemand daheim beim Metzger falsch an. Hier jedoch erklärt die Oma der Enkelin, dass die Läden früher alle so aussahen, und die Kleine bestaunt die altertümlichen Regale, auf denen Persil und Haarshampoo noch hinter Glas stehen.

Nachdem der Chef alles eingepackt hat, geht es ans Bezahlen. Er holt sich einen Block, und gemeinsam üben wir das Einmaleins – denn eine Kasse, die rechnen kann, gibt es hier nicht. Also: 4 × 8 = 32 plus 4 × 5,70 (das wären 4 × 5 = 20 und dazu 4 × 0,70 = 2,80, also 22,20), zusammen mit den 32 also 54,20 Euro. Dazu kommen noch die beiden Schüsseln. Ich werde gebeten, das Ganze noch einmal nachzurechnen – von den mittlerweile sechs wartenden und möglicherweise mitrechnenden Kunden widerspricht keiner der Summe. Dann verlasse ich mit meinen Paketen den Laden, beflissen hält man mir die Tür auf.

Ach, war das schön, hier habe ich nicht zum letzten Mal eingekauft!

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Karfreitag, 25. März 2005

Hildegard an Brigitte & Klaus – Ein Ostergruß von der Küste

Ihr Lieben — Die befürchtete Dürre ist ausgeblieben, so die erleichterte Feststellung, die heute auf Tausenden von Ansichtskarten von der friesischen Küste in alle Welt geht. Es regnet seit dem Frühstück, und die Kaufmannschaft reibt sich die Hände. Alles strömt in ihre trockenen Läden, und wer erst einmal drinnen ist, kauft auch das eine oder andere, wir zum Beispiel eine Blechdose, Ansichtskarten und ein paar Dinge gegen das Verhungern und Verdursten. Mal gespannt, wie das mit dem Wetter weitergeht.

Tschüüs und frohe Ostern
Hildegard”

Der Chronist fährt fort

Als die regnenden Bindfäden am Nachmittag etwas zarter werden, wandern wir bis kurz hinter die Friedrichschleuse die Harle hinunter. Unterwegs erwirbt mien Deern in einem Hofladen ein Glas Sülz- und ein weiteres mit Leberwurst. Mag ich beides nicht! Tiefgefrorene Stutenmilch wäre auch verkriegbar gewesen, doch die wollte keiner von uns. Statt dessen einigen wir uns in einem Imbiss gleich hinter dem Schleusentor auf jeweils eine heiße Waffel (1 Euro) nebst einem Pott Kaffee, ausgeschenkt von einem mehr als fünfzigjährigen Johnnie mit mehr als schulterlangem Haar, zum letzten Mal geschnitten, als John Lennon ‘All You Need Is Love’ sang.

Unserem Café schräg gegenüber steht oben an der Straße die alte Rettungsboot-Station von Carolinensiel. Lange Zeit schien man sie dem Verfall überlassen zu wollen, doch seit kurzem ist sie ein Museum. Das Tor steht offen, dahinter vom Boden bis zur Decke eine Glasscheibe und hinter dieser ein historisches Rettungsboot. An der Wand kann man auf drei Knöpfe drücken und erhält laut Aufdruck Infos in deutscher, englischer oder niederländischer Sprache. Wir drücken den deutschen Knopf. Art der Infos: Meeresrauschen, Vogelstimmen, Sturmgebraus. Gut, dass wir keinen anderen gedrückt haben, denn niederländische Vogelstimmen oder englisches Meeresrauschen hätten wir wohl kaum verstanden.

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Sonnabend, 26. März 2005

Es regnet immer noch, also setzen wir uns ins Auto und fahren ins nächste Städtchen. Das heißt Wittmund. Ein Parkplatz findet sich auf Anhieb, jedoch kein Laden, dem mien Deern etwas abgewinnen kann. Zurück ins Auto und ein Blick auf die Karte: wie wäre es mit Esens, da gab es im letzten Jahrtausend so eine tolle Teestube? Je näher wir Esens kommen, um so voller wird es auf den Straßen. Beim Kurven auf dem verstopften Parkplatz am Busbahnhof werfe ich das Handtuch und will nur wieder weg. Fahrerwechsel, und schließlich navigiert mein Mädchen in eine Parklücke.

Für das weibliche Geschlecht homo shoppeniensis ist Esens eindeutig attraktiver als Wittmund. Vor fünfzehn Jahren –was man sich alles so merkt? – erwarb mien Deern hier eine Hose für 7 (in Worten: sieben) deutsche Mark, doch heute suchen wir nach einem kleinen Schmuckstück für unsere Nichte Natalie, die in einer Woche ihre Erstkommunion feiert. Wir finden etwas Nettes für das Mädchen, und dann fällt der Blick meines Mädchens auf ein anderes Schmuckstück. Nach einem einstündigen Bedenkungs-Spaziergang durch die Stadt wird die Kette die ihre.

*  *  *

Es gibt sie noch, und so sitzen wir nach anderthalb Jahrzehnten zwischen Antiquitäten und alten landwirtschaftlichen Geräten bei Apfelstrudel, Pfannkuchen und Tee in Esens Teestuben-Scheune Stadt-Schkür. 1851 wurde das Gebäude als städtische Viehmarkthalle eingerichtet, daher der Name, doch was ‘Schkür’ nun genau heißt, finde ich in meinem plattdeutschen Wörterbuch nicht. Direkt vor uns hängen neben dem offenen Kamin zwei illustrierte Weisheiten aus der bäuerlichen Gesellschaft an der Wand:

Hell, wie der reinste Edelstein,
ist Mutterliebe ganz allein

und

Der Vater sorgt mit vieler Müh
für seine Kinder von spät bis früh

Doch was macht er eigentlich tagsüber?

*  *  *

Auf dem Rückweg zum Parkplatz wandern wir durch eine Buchhandlung. Dreizehn kleine Friesenmorde zu, Moment mal,

Friesenmorde

pro Mord. Ein echtes Schnäppchen, für den Preis bekommt man wohl kaum einen Auftragsmörder! Das Buch mit den mörderischen Kurzgeschichten von Theodor J. Reisdorf geht mit.

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Ostersonntag, 27. März 2005

Grau der Himmel und grau das Meer, aber es regnet wenigstens nicht. Wir radeln nach Neuharlingersiel, wo bei unserer Ankunft der Caroliner Shantychor ein Ständchen gibt. Er sang bereits in Dublin, erfahren wir, was aber seine Lobgesänge auf die Herrlichkeit des Seemannslebens nicht unbedingt hörenswerter macht.

Dann geht es landeinwärts zum Kutscherkroog nach Altfunnixsiel. Einen Kutscherschluck vorab auf Kosten des Hauses, derweil wir auf einen freien Tisch warten, dann zwei Bier zum Essen und anschließend einen weiteren Kutscherschluck auf Kosten des Hauses sollten eigentlich stark wie Guinness machen, lagern sich jedoch hier und heute wie Blei in den Knien an, insbesondere auf den letzten Meilen unserer Heimfahrt nach Carolinensiel.

Daheim erwerben wir noch ein viertel Pfund Tee bei unserem kleinen Kaufmann am Hafen, es ist ein Blatttee und seine eigene Mischung, abgefüllt in einer braunen Spitztüte. Einen Eierbecher voll soll man für vier Tassen nehmen und lange ziehen lassen, mindestens sieben Minuten, doch auch nach einer halben Stunde sei er noch nicht bitter. Kostenpunkt: drei Euro und fünfundsiebzig Cent.

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Ostermontag, 28. März 2005

Es bleibt nass und grau, und so entscheiden wir uns für das Auto und fahren zum Ostermarkt nach Hooksiel, den wir im vergangenen Jahr am Binnenhafen nicht fanden, da er am Außenhafen abgehalten wurde. Dieses Mal fahren wir gleich zum Außenhafen, doch viel verpasst man nicht, wenn man ihn nicht findet: ein Flohmarkt mit überwiegend Billigartikeln aus Fernost, wie es ihn viel größer auch alle vier Wochen auf dem Dortmunder Universitätsparkplatz gibt.

Ein kleiner Strandspaziergang? Doch heiliger Störtebeker, unsere in Carolinensiel erworbene Strandbegehungserlaubniskarte gilt hier nicht, und fünf Euro sind uns das Vergnügen, im Nieselregen fröstelnd die Wasserkante entlang zu schlurfen, dann doch nicht wert. Die fünf Euro und etwas mehr geben wir lieber in der Alten Schneiderei aus, wo man uns geknoblauchte Lammlachse mit Himbeersauce serviert. Fisch können wir auch in Carolinensiel essen.

*  *  *

Es ist später Nachmittag. Der Wettergott hat ein Einsehen gehabt, und wir sitzen auf einer Bank am alten Hafen von Carolinensiel, der in der 80-er Jahren wieder ausgebaggert wurde, nachdem man ihn in der 60-er Jahren zugeschüttet hatte. Am Anleger der Concordia II macht sich der Raddampfer auf die letzte Reise des Tages nach Harlesiel, ohne Passagiere, doch Linienverkehr ist Linienverkehr.

Concordia II Carolinensiel, © 2004 Juergen KullmannAls die Concordia nach anderthalb Stunden wieder anlegt, wundert sich der Skipper, dass wir immer noch da sitzen, weiß natürlich nicht, dass wir während seiner Abwesenheit einen kleinen Spaziergang gemacht haben. Doch sein Anlegemanöver wollten wir uns nicht entgehen lassen, denn es ist zu faszinierend zu beobachten, wie exakt man – wenn man’s gelernt hat – ein Schiff nur mittels Steuerung durch zwei Schaufelräder (eines vorwärts, das andere rückwärts und dann wieder umgekehrt) zwischen Anleger und Festmachboje bugsieren kann.

Schluss für heute! Der Käpt’n macht alles dicht und geht in die Kneipe oder nach Hause. Seine einzige Passagierin hingegen wandert zügigen Schrittes in eines der Restaurants oben am Kai, wo sie – so spekulieren wir – heute Abend bedient.

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Dienstag, 29. März 2005

Mein Mädchen holt – wie immer – die Brötchen und bringt den Anzeiger für das Harlingerland mit. Doch ehe ich den zum Altpapier räume, muss ich noch rasch eine kluge Verfügung der ostfriesischen Gemeinde Westerholt aus dem Jahr 1650 abschreiben, die ich in ihm fand. Sie lautet:

Nachdem wir in Erfahrung gebracht, dass das Schlafen in der Kirche überhand nimmt, verordnen wir allergnädigst, dass in jeder Gemeinde einige Männer aufgestellt werden, welche in der Kirche umhergehen und mit einer langen Klatsche den Leuten auf den Kopf schlagen, welche schlafen, und auf diese Weise die Kirchgänger wacherhalten, damit sie fleißiger auf die Predigt hören.

Ob die Verfügung wohl heute noch gilt und man mittlerweile Ein-Euro-Jobber dafür einsetzt? Ich weiß es nicht. Aber jetzt wollen wir noch ein bisschen raus, und morgen geht es schon wieder nach Dortmund zurück.

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Reiseberichte Friesland: 13. Reise, Ostern 2005
© 2005-2009 Jürgen Kullmann – Letzte Bearbeitung: 09.12.2009